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Digitales Lernen an der SRH Fernhochschule – The Mobile University – Professoren als Lernbegleiter

Interview mit Prof. Dr. Stefan Ingerfurth von der SRH Fernhochschule – The Mobile University

Die SRH Fernhochschule – The Mobile University – ist eine Hochschule in privater Trägerschaft. Sie ist mit 21 Standorten in Deutschland, Österreich und der Schweiz vertreten und bietet aktuell 32 berufs- und ausbildungsbegleitende Fernstudiengänge sowie 25 Hochschulzertifikate an.

Stefan Ingerfurth ist seit 2015 Professor für Allgemeine Betriebswirtschaft und seit 2018 Prorektor für Forschung & Hochschulentwicklung an der SRH Fernhochschule – The Mobile University. Er leitet die Studiengänge Betriebswirtschaft und Management (B.A.), Betriebswirtschaft und Digitalisierung (B.A.), Gesundheitsmanagement (B.A.) und Management (M.Sc.).

Der digitale Ansatz der SRH Fernhochschule hat mich dazu bewogen, Stefan Ingerfurth zu fragen, ob er sich ein Interview mit mir zum Thema „Digitales Lernen an der Hochschule“ vorstellen könnte. Die Mobile University war bereits vor Corona digital aufgestellt, umso relevanter ist der mobile und digitale Ansatz der Hochschule in diesen aktuellen Zeiten. Hier nun das Interview*:

Prof. Dr. Stefan Ingerfurth –
Professor für Allgemeine Betriebswirtschaft und Prorektor für Forschung & Hochschulentwicklung

Melanie Hasenbein: Was zeichnet die Mobile University aus, wie mobil und digital ist Ihre Hochschule?

Stefan Ingerfurth: Als Mobile University sind wir so mobil wie unsere Studierenden, die oft neben dem Studium berufstätig sind, Familie haben oder Spitzensport betreiben. Unser Studium passt sich flexibel an und ermöglicht jedem, der es möchte, den Traum vom Studieren. Dabei legen wir besonderen Wert auf die Qualität – wir wollen serviceorientiert für unsere Studierenden da sein. Jedem soll die Möglichkeit eines Studiums offenstehen: Unabhängig davon, in welcher Situation er sich befindet, wie alt er ist, ob er viel unterwegs ist oder sich im Ausland befindet. Mit unserem digitalen E-Campus und ergänzenden multimedialen Lerninhalten steht das Wissen jederzeit orts- und zeitungebunden zur Verfügung.

Melanie Hasenbein: Wenn ich versuche, mir ein Bild davon zu machen, da ist jemand, der ist beruflich viel unterwegs: kann der primär mobil studieren?

Stefan Ingerfurth: Ja, denn 90% unserer Studierenden absolvieren ihr Studium neben dem Beruf. Unser Studienkonzept basiert auf dem CORE-Prinzip, was für Competence Oriented Research and Education steht. Es geht darum, Kompetenzen zu erwerben und nicht nur das Wissen für die nächste Klausur abrufen zu können. Deshalb erarbeiten sich die Studierenden mithilfe der online bereitstehenden Materialien Kompetenzen, welche sie für ihren Berufsweg mitnehmen. Das bedeutet aber auch, dass die Klausur aus unserer Sicht nicht immer die beste Prüfungsform darstellt. In einigen Modulen werden noch Klausuren geschrieben, in anderen haben wir bereits alternative Prüfungsformen im Einsatz. Klassische Klausuren finden bei uns normalerweise vor Ort statt: Dafür bieten wir acht Mal im Jahr sogenannte Prüfungswochenenden an. An diesen kann die Klausur an einem unserer 21 Prüfungszentren in Deutschland, Österreich und der Schweiz geschrieben werden. Ob und in welchem Zeit-Slot ein Studierender die Prüfung schreibt, kann er selbst flexibel wählen. Er kann entscheiden, wenn er sich bereit für die Klausur fühlt und sich dann für die Klausur in einem Prüfungszeitraum seiner Nähe anmelden.

Melanie Hasenbein: Und die anderen Prüfungsformen sind dann sowas wie Hausarbeiten, Präsentationen oder Cases?

Stefan Ingerfurth: Genauso ist es. Dafür haben wir ein Portfolio an verschiedenen Prüfungsformen, wo auch der ein oder andere Kollege mal etwas Neues ausprobiert. Ein Beispiel sind sogenannte Einsendeaufgaben, die recht häufig eingesetzt werden. Die Bearbeitung erfolgt zuhause. Einsendeaufgaben ähneln Hausarbeiten oder Seminararbeiten, es gibt hier aber kleinere Abschnitte, zum Beispiel drei Fragen, die man beantwortet und etwas anwenden muss, also eine Transferaufgabe leistet. Präsentationen finden bei uns als Onlinepräsentation statt. Das läuft so ab, dass Sie die Präsentation hochladen und dann ein Prozess startet. Sie bekommen einen Termin und präsentieren online mit Kamera in Adobe Connect. Für Studierende ist das realistische Szenario super, weil im beruflichen Kontext immer mehr online präsentiert wird. Entsprechend gut wird das Angebot auch von unseren Studierenden wahrgenommen.

Melanie Hasenbein: Ja, das ist gerade im Business-Kontext die Normalität. Da ist es super, dass man das entsprechend lernen und ausprobieren kann!

Stefan Ingerfurth: Das ist unser Anspruch, den wir auch mit dem CORE-Prinzip verfolgen. Es ist uns wichtig, dass die Studierenden Kompetenzen erwerben, die dann auch wirklich benötigt werden. Wir wollen nicht etwas prüfen, was rein theoretisch ist und nur in Lehrbüchern vorkommt. Natürlich achten wir trotzdem auf wissenschaftliches Arbeiten. Wir fördern dieses vor allem durch Hausarbeiten, reflektieren und kritisches Hinterfragen. Viele unserer Studierenden sind sehr ins Berufsleben eingebunden. Da ist es immer eine große Herausforderung, diejenige oder denjenigen von seiner täglichen Arbeit zu lösen und zu sagen: „Nimm mal die Vogelperspektive ein und schau‘ dir beide Seiten an, um pro und contra zu reflektieren.“ Das hilft vielen dabei, sich persönlich weiterzuentwickeln.

Melanie Hasenbein: Jetzt haben Sie gerade schon Adobe Connect erwähnt. Gibt es noch andere digitale Tools, die Sie an der Fernhochschule einsetzen?

Stefan Ingerfurth: Unser digitaler E-Campus ist die zentrale Kommunikationsplattform und das Kernstück des Studiums. Dort findet der Studierende alles, was er zum Studieren braucht. Dazu muss man verstehen, dass sich ein Fernstudium vom Studium an einer Präsenzhochschule unterscheidet. Man muss nicht vor Ort sein, um die nötigen Informationen zu bekommen. Bei uns gibt es als Basis für ein Modul immer einen oder zwei Studienbriefe, die inhaltlich alles enthalten, um das Modul bearbeiten zu können. Das ist das Fundament und dazu reichern wir viel an. Von Onlinevorlesungen, kleinen Videosequenzen, Quizfragen, Audio Abstracts bis hin zu interaktiven Veranstaltungen. Ein Audio Abstract ist wie in Hörbuch, nur kompakter. Es enthält die Zusammenfassung eines Studienbriefs in gesprochener Form – ideal für alle, die eher der auditive Lerntyp sind. Unsere Onlinevorlesungen werden mit dem Tool Panopto aufgezeichnet und können immer wieder angesehen werden. Zusätzlich kann der Studierende Lesezeichen oder einen Zeitstempel setzen, mit dem wieder zu dem Kapitel gesprungen werden kann. Unsere interaktiven Veranstaltungen führen wir mit Adobe Connect durch. Die Erfahrung zeigt allerdings, dass Onlinesprechstunden oder ein Onlineaustausch besser angenommen werden als eine Onlinevorlesung. Nicht jeder traut sich in einer Onlinevorlesung, eine Frage zu stellen und es gibt sowieso eine Aufzeichnung, die man sich anschauen kann. Wenn man dagegen online zum Austausch zusammenfindet, nehmen in der Regel viele teil und es werden direkt Fragen gestellt.

Melanie Hasenbein: Wie hat sich die Rolle als Professor mit der fortschreitenden Digitalisierung verändert?

Stefan Ingerfurth: Die Art des Studierens ist eine andere, als ich noch studierte. Wir als Professoren sehen uns als Lernbegleiter und nicht als die Person, die der einzige Wissensträger ist und ein Geheimnis hütet. Diese Zeiten sind mit der Digitalisierung, welche eine jederzeitige Verfügbarkeit von Informationen mit sich bringt, vorbei. In Onlinesprechstunden, eins-zu-eins Sprechstunden, Telefonaten und via E-Mail stehen wir in einem ständigen Austausch mit unseren Studierenden.

Melanie Hasenbein: Das ist ein spannender Ansatz. Zudem geht es ja überall immer mehr in diese Richtung. Wie sieht es mit Präsenzveranstaltungen aus?

Stefan Ingerfurth: Präsenzveranstaltungen bieten wir immer als freiwillige Ergänzung an und haben auch eine gewisse Nachfrage. Deshalb bauen wir unsere Studienzentren, in denen diese Veranstaltungen stattfinden, weiter aus. Trotz steigender Studierendenzahl bleibt die Anzahl der Präsenzveranstaltungen konstant oder sinkt sogar leicht. Das spricht dafür, dass Angebote vor Ort weniger wahrgenommen werden. Je nach Studiengang variiert das, Psychologiestudierende kommen zum Beispiel tendenziell eher zu den Veranstaltungen vor Ort.

Melanie Hasenbein: Wie viele Präsenzveranstaltungen führen Sie selbst pro Jahr noch durch?

Stefan Ingerfurth: Das kann ich selbst ein bisschen steuern. Typischerweise biete ich einmal pro Monat ein Wochenende mit Präsenzveranstaltungen an. Da stehe ich aber nicht von Freitagnachmittag bis Samstagabend vorne und gebe Input, sondern gestalte das sehr interaktiv. Es soll den Studierenden helfen und die Teilnahme soll sich lohnen. Das umfasst nicht nur die Weitergabe von Wissen, sondern auch sich weiterzuentwickeln und ganzheitlich zu verstehen. Viele meiner Veranstaltungen mache ich jedoch in der Onlinebegleitung.

Melanie Hasenbein: Geht es damit bei Ihnen komplett weg von der klassischen Vorlesung?

Stefan Ingerfurth: Als Prorektor der Mobile University sage ich ganz klar: Ja. Natürlich muss jeder Professor oder Dozent selbst abwägen, welches Format zur Vermittlung seiner Inhalte am besten geeignet ist. Der Wunsch ist allerdings schon, dass die alternativen Lehrformate der klassischen Vorlesung vorgezogen werden.

Melanie Hasenbein: Wie kommen denn die Studierenden mit dem mobilen und selbstgesteuerten Lernen zurecht? Ich kann mir vorstellen, dass es manchen recht leichtfällt, so selbstständig zu lernen. Andere haben sicherlich auch Schwierigkeiten damit, sich selbst zu motivieren und dranzubleiben. Gibt es da Unterstützungsmöglichkeiten?

Stefan Ingerfurth: Da uns Qualität sehr am Herzen liegt, unterstützen wir unsere Studierenden jederzeit – nicht nur mit Materialien, sondern auch in der Betreuung. Unsere Studierendenbetreuung hilft bei allen organisatorischen Fragen rund ums Studium, alle inhaltlichen Fragen beantworten unsere Professoren und Dozenten. Dafür müssen die Studierenden allerdings aktiv sein und unsere Betreuung auch wollen.

Melanie Hasenbein: Können Sie über die Zielgruppe der Studierenden eine Aussage treffen, wie viele berufstätig, wie viele Anfänger sind?

Stefan Ingerfurth: Über 90% unserer Studierenden sind berufstätig.

Melanie Hasenbein: Hat die Mobile University Studiengänge, die verstärkt digitale Inhalte behandeln? Gibt es ein paar Beispiele, die Sie nennen können, welche die Studierenden auf diese digitalisierte Zeit vorbereiten?

Stefan Ingerfurth: Unseren Masterstudiengang Digital Management & Transformation, welcher einen grundständigen Bachelorstudiengang voraussetzt. Im Bachelorbereich sind es die Studiengänge „Betriebswirtschaft und Management“ und „Betriebswirtschaft und Digitalisierung“. Seit Ende letzten Jahres werden die beiden betriebswirtschaftlichen Bachelorstudiengänge mit digitalen Inhalten durch zwei Bachelorstudiengänge im Informatikbereich verstärkt: „Wirtschaftsinformatik“ und „Web- und Medieninformatik“. Darüber hinaus überlegen wir auch in unserer weiteren Planung, was wir noch im digitalen Bereich anbieten können. So gibt es mittlerweile einen MBA, der die Vertiefung Digitalisierung beinhaltet. Ich bin fest davon überzeugt, dass Digitalisierung in Zukunft ein Grundlagenmodul wird, so wie wissenschaftliches Arbeiten.

Melanie Hasenbein: Was glauben Sie, wo es hingeht mit der Digitalisierung, der Künstlichen Intelligenz und der virtuellen Realität? Was sind da mögliche Zukunftsszenarien?

Stefan Ingerfurth: Wir als Hochschule beschäftigen uns eingehend mit den angesprochenen Themen. Es ist natürlich immer schwer, zu antizipieren, was technisch und digital kommen wird. Ich persönlich denke, dass künstliche Intelligenz schleichend Teil unseres Alltags wird, aber vielleicht nicht so, wie wir uns das bisher vorstellen. Künstliche Intelligenz könnte ein weiteres Tool werden, wie und womit man lernt.

Melanie Hasenbein: Was glauben Sie, wofür der Mensch zukünftig da sein wird?

Stefan Ingerfurth: Künstliche Intelligenz wird kommen und die Digitalisierung wird weiter voranschreiten, das ist sicher. Aber was eine Maschine nicht kann, sind Emotionen und Kreativität zu erbringen. Eine Maschine kann keine Empathie gegenüber Studierenden oder anderen Personen transportieren. Sie wird nur da unterstützen, wo es rechnerisch richtig ist – es kann aber in einer anderen Situation trotzdem nötig sein. Der Mensch wird immer eine Steuerungsfunktion haben. Die Gedanken, die sich eine Hochschule machen sollte, sind eher, ob es zukünftig noch Abschlüsse braucht und dieses Geschäftsmodell zukunftsfähig ist. Ist ein Abschluss an sich eine Garantie dafür, dass man für etwas die Kompetenz hat? Oder geht es vielmehr darum, dass man etwas gelernt, mit Wissen angereichert und somit eine Kompetenz erworben hat? Ich glaube, man muss sich damit auseinandersetzen, auch wenn es möglicherweise noch eine ganze Weile so bleiben wird, wie es ist.

Melanie Hasenbein: Das führt mich zu einem weiteren Punkt, den Dozenten und Professoren. Was brauchen diese, was sollten sie mitbringen?

Stefan Ingerfurth: Professoren brauchen eine Bereitschaft, sich weiterzuentwickeln. Das ist auch unabhängig von der Lehre für jeden essenziell, kann aber auch eine große Herausforderung darstellen: Lebenslanges Lernen, offen für Neues sein und sich nicht vor Veränderungen verschließen.

Melanie Hasenbein: Gibt es abschließend noch eine Botschaft oder etwas, das Sie mitgeben wollen im digitalen Wandel?

Stefan Ingerfurth: Keine Angst davor zu haben. Das Thema wird mit seinen Gefahren und Risiken stärker wahrgenommen als die guten Sachen, die damit einhergehen. Der digitale Wandel bietet viele Chancen und Möglichkeiten, die genutzt werden können. Es wird auch weiterhin eine große Herausforderung sein, richtiges von falschem Wissen zu unterscheiden und Fake News als diese zu erkennen. Darauf können wir uns nicht vorbereiten, aber man kann lernen zu reflektieren und zu hinterfragen.

Melanie Hasenbein: Vielen Dank.

Stefan Ingerfurth: Gerne.

*Das Interview wurde bereits vor der COVID-19-Pandemie aufgenommen.

Digitale Transformation in der Personalentwicklung – der klassische Trainer ist überholt

Interview mit Hans-Peter Machwürth von Machwürth Team International

Das Machwürth Team International (MTI) ist ein global tätiges Beratungs- und Trainingsunternehmen. Seit 30 Jahren unterstützt MTI mit 450 Beratern, Trainern und Projektmanagern weltweit, Unternehmen beim Umsetzen ihrer Strategien in der Personal- und Organisationsentwicklung. MTI stellt seinen Kunden zudem Online-Instrumente wie Lernplattformen und digitale Lerntools zur Verfügung. MTI ist auf allen Kontinenten mit einer eigenen Gesellschaft vertreten. Ein Schwerpunkt in der internationalen Tätigkeit ist der asiatische Markt. Hans-Peter Machwürth selbst ist geschäftsführender Gesellschafter aller Unternehmen der MTI-Gruppe. Neben dem parallelen Ausbau des eigenen Unternehmens begleitet Hans-Peter mit seiner Erfahrung im Change Management schwerpunktmäßig Unternehmen, die Reorganisationen, Merger oder andere Change-Prozesse durchlaufen. MTI hat im Jahr 2019 die Studie „Digitale Transformation als Herausforderung in der Personalentwicklung“ durchgeführt. Dies war ein guter Grund Hans-Peter Machwürth zu fragen, ob er sich ein Interview mit mir zum Thema „Digitale Transformation in der Personalentwicklung“ vorstellen könnte. Hier nun das Interview:

Hans-Peter Machwürth –
geschäftsführender Gesellschafter der MTI-Gruppe

Melanie: Was sind denn die Hauptfokusthemen von Machwürth Team international?

Hans-Peter Machwürth: Wir haben sechs Säulen, in denen wir arbeiten. Drei im Personalentwicklungsbereich und drei im Organisationsentwicklungsbereich. Zwei Hauptsäulen in der Personalentwicklung mit jeweils einem Drittel des Umsatzes sind Führung & Management und Vertrieb & Service, und die dritte Säule widmet sich den Business Skills. Im Organisationsentwicklungsbereich sind es die Arbeits- und Beratungsgebiete Change, Teamentwicklung und Lean Management. Diese Arbeits- und Beratungsthemen decken wir in Deutschland als auch international ab. Wir realisieren etwa fünfzig Prozent unseres Umsatzes in Deutschland und fünfzig Prozent in internationalen Projekten. Ein Wachstumsfeld ist die Zusammenarbeit mit Organisationen im Nonprofit-Bereich z.B. Behörden und Verwaltungen. In diesen Organisationen ist die Zeit nun reif, die Themen aufzugreifen, die in der Wirtschaft bereits bearbeitet wurden. Zusätzlich nimmt das Thema Gesundheit einen größeren Stellenwert ein.

Melanie: Und was haben Sie für Kunden, sowohl Großkonzerne als auch den Mittelstand, oder gibt es da einen Fokus?

Hans-Peter Machwürth: Das ist ziemlich gemischt. Wir haben beispielsweise Großkunden aus dem Automotivbereich, insbesondere Zulieferer; wir arbeiten gerade aktiv an dem Thema Umgang mit der digitalen Transformation. Es geht darum, die Werke und die Führungskräfte auf der Worker-Ebene wie Meister, Schichtleiter, Produktionsleiter mit den Themen Digitalisierung vertraut zu machen und welche Veränderungen in der Arbeitsgestaltung auf die Produktion zukommt. Hier haben wir in Deutschland ein Pilotprojekt gemacht und sind derzeit in Mexiko in der Umsetzung. Das ist sehr spannend und interessant zu sehen, dass man über Digitalisierung spricht und gleichzeitig noch mit sehr analogen Lernmethoden arbeitet, weil die Produktionsbereiche noch nicht so aufgestellt sind, dass für alle Fachkräfte ein Zugang zu digitalen Tools, z.B. Laptops, Smartphones, Tablets möglich ist, um Lernformate digital zu verwirklichen. Da auch das Mindset in der Produktion eher Anpassbarkeit bevorzugt, haben wir z.B. ganz „normale“ Notizbücher, die mit themenbezogenen Einklebern zum Selbstgestalten des Lernens anregen sollen und prima angenommen werden. Es erfordert mitunter Kreativität, um das Spannungsfeld zwischen konzeptionellen Vorstellungen und praktischer Umsetzung – Anspruch und Realität – zu meistern. Gerade wenn zudem noch kulturelle Unterschiede zu managen sind.

Melanie: Was machen Sie selbst bereits zum Thema Digitalisierung im Lernbereich? Womit beschäftigen Sie sich?

Hans-Peter Machwürth: Wir haben selbst ein IT-Team und nach und nach haben wir unsere Prozesse digitalisiert. Das heißt beispielsweise, wir arbeiten heute nicht mehr mit einem Papier-Feedback nach den Trainings, sondern wir haben ein digitales Seminarfeedback im Einsatz. Und wir haben ein Tool, das nennt sich MTI Dialog, ein digitales Brainstorming Tool. Da können Sie vor dem Training mit den Teilnehmern in die Kommunikation gehen und Interessen abfragen. Früher hat man eine Pinnwand gehabt und hat die ersten Stunden im Training dafür verwendet. Das machen wir heute digital vor dem Training. Zudem haben wir ein LMS (Learning Management System) für unsere Kunden eingerichtet. Hier stellen wir die kognitiven Inhalte vor einem Face-to-Face Training ein, z.B. ein Video oder Podcast. Damit trennen wir kognitive Inhalte vom Verhaltenstraining mit Feedback. Die Wissensinhalte nehmen wir somit digital vorweg. Heute braucht man weniger „schlaue Trainer“, die den Teilnehmern das Wissen präsentieren, da man das Wissen im Internet oder an anderen Stellen nachlesen kann. Dafür bekommt das Trainieren auf der Verhaltensebene im Präsenztraining mehr Zeit, die Teilnehmer zu coachen und beim Lernen individuell zu begleiten. Wir haben dazu ein modernes und nachhaltiges Lerndesign entwickelt. Im ersten Schritt sollte die Führungskraft ein Vorbereitungsgespräch mit dem Teilnehmer durchführen. Im zweiten Schritt findet dann Lernen auf dem LMS mit Selbstlernmaterial statt. Im dritten Schritt gestalten wir ein Webmeeting, wo wir mit den Teilnehmern die Dinge, die sie zur Verfügung gestellt bekommen, reflektieren. Wir bringen die Teilnehmer auf ein gleiches Level und vernetzen diese miteinander. Dann gibt es meistens ein Pre-Work, wo die Teilnehmer einen Fall aus ihrem Daily Business einbringen sollen, an dem wir dann im Präsenztraining weiterarbeiten. Im Anschluss an das Präsenztraining gibt es eine Transferaufgabe und dann noch ein Nachbereitungs-Webmeeting. Zusätzlich können wir mit Learning Nuggets Lernende und Teilnehmer auch regelmäßig per Smartphone mit Inhalten, Tipps und Anregungen „füttern“. Und am Ende soll möglichst ein Auswertungsgespräch mit der Führungskraft geführt werden. Dadurch haben wir mehrere Lernschleifen und können so eine andere Nachhaltigkeit erreichen. Dieser pragmatische Ansatz in der Kombination verschiedener Tools und Verfahren, als eine Form des Blended Learning ist für Personalentwickler auch gut handhabbar.

Melanie: Und machen die Teilnehmer das? Beschäftigen sie sich vor dem Präsenztraining mit dem Lernmaterial?

Hans-Peter Machwürth: Das funktioniert in der Regel ganz gut. Wenn man das restriktiv macht, dann macht man immer einen Knowledge Check und du darfst nur zum Präsenztraining kommen, wenn du den bestanden hast. So etwas lässt sich manchmal jedoch nicht wirklich durchsetzen und die Frage ist auch, fördert das Lernbereitschaft und unterstützt so etwas die Unternehmen in der Entwicklung von qualifizierten Mitarbeitern. Da kommen wir auch zu einem wichtigen Punkt. Ich glaube, dass modernes Lernen und seine Möglichkeiten, nicht nur heißt, Lernen digital abzubilden. Sondern die Frage ist: Welche Lernkultur haben wir? Und solange wir eine Lernkultur haben, die heißt: „Ich gehe zum Seminar und lasse mir etwas beibringen“, dann haben wir eine Lernkultur, die die digitalen Möglichkeiten noch nicht nutzt. Also alles, was sozusagen kognitiv im weltweiten Web steht, sollten die Lerner eigentlich für ihre Lernvorbereitung nutzen und da brauchen sie keinen Trainer, der ihnen tolle Folien präsentiert für teures Geld. Und nach sechs Wochen sind neunzig Prozent des Wissens weg, statistisch betrachtet. Das ist immer wieder die Diskussion mit den Unternehmen, dass man solche Lerndesigns mit den Firmen bespricht. Natürlich bekommen wir auch jede Menge Anfragen von Kunden, die einfach klassische Trainings einkaufen wollen. Wenn ich denen dann mit moderneren Lerndesigns komme, dann ist das oftmals zu komplex. Also da verlieren wir auch manchen Auftrag, weil wir mit der Nachhaltigkeit schon ein bisschen provozieren und es oft als „Aufblähen“ verstanden wird. Wir haben auch keine Trainer mehr, sondern Lernbegleiter oder Lerncoaches. Der klassische Referent, der ist überholt.

Melanie: Das ist interessant!

Hans-Peter Machwürth: Das Verhalten kommt letztendlich über Reflexion, über Feedback, über konkretes Ausprobieren und über Diskussionen, über das sich selbst in die Themen Hineindenken. Das kommt nicht, weil ein Trainer vorne steht und schöne Präsentationen abhält.

Melanie: Jetzt haben Sie ja die Studie zur digitalen Transformation als Herausforderung für die Personalentwicklung durchgeführt. Was hat Sie dazu bewegt diese Studie zu machen? Und was ist dabei rausgekommen?

Hans-Peter Machwürth: Meine Frau war auf der Messe in Hannover und hat Impulse mitgebracht. Eine Kollegin war in den USA und hat auch Impulse mitgebracht. Wir haben dabei festgestellt, was möglich ist und was bereits gemacht wird. Das sind riesen Unterschiede. Da haben wir uns gesagt: „Wir müssen mal schauen, wo wir da in Deutschland unterwegs sind“ und haben dann Unternehmen angeschrieben und auch 145 Feedbacks zurückbekommen. Was man schon mal sagen kann, ist, dass sich der Blended Learning Ansatz durchgesetzt hat. Wenn man dann anschaut, wo die Unternehmen in der Digitalisierung von Lernformen stehen, da gibt es ganz wenige, die schon wirklich als Digital Leader voll dabei sind und wenn dann sind es eher kleine als große Unternehmen. Nur etwa die etwa Hälfte der Unternehmen nutzen ein LMS. Meine Vermutung ist, dass in Großunternehmen der Anspruch der Investition in digitales Lernen immer deutsch, sehr perfekt sein muss. Wenn ich China anschaue, was da passiert, die machen das ganz einfach. Da bekommen Sie ein Smartphone in die Hand gedrückt und es wird ein Fachspezialist an ein Flipchart gestellt und gesagt: „Erkläre den Mitarbeitern, was du gerade wie machst und das soll nicht länger als fünf Minuten dauern“. Dann haben Sie schon ein Fachvideo, das sie verteilen können. Und bei uns, da wird eine Agentur beauftragt. Das muss dann hundertprozentig sein. Das muss auch wunderbar gesprochen sein. Da darf kein Stotterer drin sein und dann wird das alles sehr lang und sehr teuer und damit entschleunigen Sie die Entwicklung, weil Sie den Anspruch der Perfektion haben. Da wird ein großer Aufwand betrieben und dann kommt das nicht zum Tragen, weil bis dahin die Inhalte schon wieder veraltet sind. Wir müssten da viel pragmatischer werden. Und ein weiteres Handicap, das haben wir in der Studie auch gesehen, ist, dass die meisten Personalentwicklungen zu wenig IT-Ressourcen haben oder auf zu wenig IT Ressourcen zugreifen können. Und so entsteht dann ein Engpass.

Melanie: Welche Bedeutung hat dann das Präsenzlernen noch zukünftig?

Hans-Peter Machwürth: Wenn es um Feedback geht und wenn Sie Kommunikationsmuster anschauen, das kriegen Sie rein kognitiv nicht hin. Das müssen Sie erlebbar machen oder auch das Thema Konfliktbehandlung. Also immer, wo Menschen sozusagen in Systemen zusammenarbeiten, brauchen Sie Präsenz. Ich denke, in fünf, zehn, zwanzig Jahren wird es ganz normal sein, dass die Menschen sich die Wissensinhalte, die sie für ihre Arbeit benötigen, selbst erarbeiten. Sie werden dann über Feedbacksysteme und über Coaching begleitet. Es macht keinen Sinn, rein kognitive Inhalte im Training zu vermitteln.

Melanie: Glauben Sie auch, dass Themen wie virtuelle und erweiterte Realitäten Einzug halten werden? Wird das im Trainingsbereich einen Durchbruch erfahren oder eher weniger?

Hans-Peter Machwürth: Also ich glaube schon. Wir haben gerade für einen Kunden einen Onboarding-Prozess gemacht, wo wir die Bewerber, wenn sie den Vertrag unterschrieben haben, schon vorab virtuell durch die Büroräume führen, ihren Arbeitsplatz zeigen und die Kollegen vorstellen. Das ist eine erste Vorstufe. Was aus meiner Sicht momentan noch zu wenig eingesetzt wird, sind Podcasts oder Videoclips mit Arbeitsthemen, kognitiven Inhalten. Das ist eine Lernform, die ich wirklich autonom nutzen kann wie z.B. im Zug, in der Bahn etc. Meiner Ansicht nach wird dieses Potenzial noch überhaupt nicht ausgeschöpft in dem Umfang, wie es möglich wäre.

Melanie: Wie sieht nun die Personalentwicklung in der Zukunft aus? Wie muss sich diese aufstellen?

Hans-Peter Machwürth: Meine These ist und die entwickle ich schon seit Jahren, Personalentwickler und Organisationsentwickler sowie Controller müssten zusammen zu einer internen Beratungseinheit werden, die die Führungskräfte begleiten. Da hat man dann den Fokus einmal auf Zahlen, Daten, Fakten, auf der anderen Seite auf Prozesse und Veränderungen und auf der dritten Seite auf den Menschen. Am besten wäre ein gemischtes Team, die die Führungskräfte gemeinsam beraten. Dann hätte man die notwendige Qualität.

Melanie: Das heißt, die Zusammenarbeit innerhalb des Unternehmens mit den entsprechenden relevanten Abteilungen muss eine andere sein?

Hans-Peter Machwürth: Ja, und dann müsste man die IT noch mit dazu nehmen.

Melanie: Was können dann Externe machen? Was glauben Sie, wie können Sie da sinnvoll unterstützen?

Hans-Peter Machwürth: Ja, da gibt es drei Ansatzpunkte. Einmal das Ressourcenproblem, wenn die internen Abteilungen im Unternehmen zu wenig Ressourcen zur Verfügung haben. Zum anderen ist es ein Supervisionsthema, wo man interne Abteilungen supervidieren kann und zum Dritten geht es um Co-Management, wo man sagt: „Wir machen gemeinsam eine Ist-Analyse und entwickeln dann Konzepte und setzen diese co-kreativ um“.

Melanie: Was gibt es am Ende des Interviews noch, was Sie gerne mitgeben möchten, im Hinblick auf die Digitalisierung?

Hans-Peter Machwürth: Also ich denke, wir müssen die deutsche Gründlichkeit bereinigen und müssen pragmatisch einfach tun und ausprobieren, weiterentwickeln, in die nächste Lernschleife gehen. Einfach machen und kreativ sein und nicht auf die letzte Vorstands- oder Geschäftsführungsentscheidung warten, sondern mal wirklich ausprobieren. Ich glaube, dann verändert sich die Kultur. Die jungen Menschen, die nachkommen, die haben da überhaupt keinen Stress mit.

Melanie: Vielen Dank für diese spannenden Einblicke.

Hans-Peter Machwürth: Sehr gerne.

Remote Teams – Transparenz, Self-Improvement und Entrepreneurial Spirit als zentrale Merkmale für verteilte Teams bei Buffer

Interview mit Marcus Wermuth – Engineering Manager bei Buffer

Marcus Wermuth ist Engineering Manager bei Buffer, einem der renommiertesten verteilt arbeitenden Unternehmen. Derzeit konzentriert er sich auf die Themen Führung und Management in verteilten Unternehmen und darauf, wie wir in einer digitalen Welt psychologisch vertrauensvolle Teams aufbauen können. Marcus schreibt über virtuelle Führung und leitet Workshops zum Thema Management in verteilten Teams.

Buffer bietet eine Software-Plattform, die Unternehmen hilft, ihren Brand durch Social Media aufzubauen und online mit ihren Kunden in Kontakt treten zu können. Die Besonderheit von Buffer ist, dass alle Teams von insgesamt 90 Personen über 15 Länder verteilt komplett remote zusammen arbeiten. So auch das Team von Marcus. Das war ein guter Grund für mich Marcus zu fragen, ob er für ein Interview zum Thema Remote Teams zur Verfügung stehen würde. Hier nun das Interview:

Marcus Wermuth – Engineering Manager bei Buffer

Melanie: Zunächst möchte ich dich fragen, was deine aktuelle Rolle bei Buffer ist.

Marcus: Also mein Job bzw. meine Jobbezeichnung ist Engineering Manager. Ich manage ein Engineering Team bei Buffer und das ist das Mobile Team. Ich habe vor vielen Jahren als Ingenieur im Mobile-Bereich angefangen. Mein Aufgabenbereich hier bei Buffer ist das eines People Managers. Meine Rolle beinhaltet zudem noch ein bisschen die eines Product Managers, da ich die Produkte, die das Mobile Team baut, auch in den Kontext der Firma bringen muss. Um vielleicht kurz noch was zur Firma zu sagen, was vielleicht wichtig ist, Buffer ist eine fully remote Firma. Das heißt wir haben kein Büro. Wir sind neunzig Leute die von Australien bis zur Westküste Amerikas verbreitet sind. Wir bauen Tools für Firmen, um online ihren Brand aufzubauen. Das heißt, viel läuft über Social Media. Buffer hat mit nur einem Tool angefangen, dabei geht es um das Teilen auf Social Media. Mittlerweile haben wir aber noch zwei andere Tools, die sich mit dem Thema Analytics und dem Thema Engagement auf Social Media befassen. Und mein Team baut quasi für diese diversen Produkte eine Mobile-Lösung.

Melanie: Und wie groß ist dein Team für das du verantwortlich bist?

Marcus: Es sind fünf Personen, mit mir sechs.

Melanie: Okay. Und ihr seid komplett verteilt und ihr habt kein festes Büro!?

Marcus: Genau. Das ist auch einer unserer Values, ich sage es jetzt mal auf Englisch: „work where you happiest“. Also da, wo man sich am glücklichsten fühlt. Ich würde sagen, dass sechzig, siebzig Prozent von zu Hause arbeiten. Die anderen dreißig Prozent, vielleicht sind es auch vierzig arbeiten in Coworking Spaces. Wir haben ein, zwei Personen, die auch sehr viel reisen, aber das ist eher die Minderheit.

Melanie: Und die Personen, die in Coworking Spaces arbeiten, organisieren die das für sich selbst, oder habt ihr da irgendwelche Kooperationen?

Marcus: Wir haben keine Kooperationen, aber wir haben Perks und Benefits, die Buffer uns gibt. Man kann am Anfang entscheiden, ob man vom Home-Office arbeitet, so wie ich. Dann bekommt man 500 Dollar, um sich das einzurichten und noch jedes Jahr einen gewissen Betrag. Oder man entscheidet sich, in einen Coworking Space zu gehen. Dann bezahlt Buffer natürlich im Rahmen dieses Coworking Spaces.

Melanie: Und wie schätzt du das ein, wie funktioniert diese Art des Arbeitens?

Marcus: Gute Frage. Also ich mag es nicht mehr missen. Ich kenne auch das Arbeiten nicht anders. Ich habe während der Uni schon angefangen, als Freelancer zu arbeiten. Als Freelancer arbeitet man ja häufig auch von zu Hause. Und das habe ich für fünf, sechs Jahre gemacht, das ist auch schon eine Art verteiltes Arbeiten. Ich sage mal so, diese Arbeitsweise war mir nicht unbekannt. Natürlich dann Manager zu sein, ist nochmal eine ganz andere Geschichte. Ich habe bei Buffer als Ingenieur angefangen, als Developer, und habe eineinhalb Jahre im Mobile Team gearbeitet und bin dann anderthalb Jahre, nachdem ich angefangen hatte, in die Management Rolle gewechselt. Das war natürlich schon eine große Änderung und vor allem dann remote oder verteilt diese ganze Sache zu betreiben. Man hat die Leute nicht neben sich. Ich will das Ganze nicht Schönreden. Es ist auch schwierig, so verteilt zu sein, weil die Zeitzonen es einem nicht einfacher machen. Auch das Problem der Isolation, wenn man alleine zu Hause arbeitet und niemanden neben sich hat. Also es hat auch Nachteile, aber ich würde sagen, dass die positiven Seiten von Remote Work, sei es für mich persönlich, sei es für die Firma, sei es für die Umwelt, sei es für die Wirtschaft, sehr viel mehr Vorteile hat als Nachteile. Also ich mag es nicht mehr missen.

Melanie: Und wie häufig seht ihr euch face-to-face im Direktkontakt?

Marcus: Also ich sage mal so zwei bis dreimal im Jahr, also das ist schon so das Minimalste. Wenn ich mal für eine Konferenz oder so in London bin, dann treffe ich auch da Personen aus unserer Firma.

Melanie: Wie würdest du denn den Arbeitsstil deines Teams bezeichnen? Ist das ein agiles Arbeiten, oder was ist das für eine Art des Arbeitens?

Marcus: Es hängt von Team zu Team ab. Buffer ist nicht so eine Firma, die sagt, so ist das jetzt, so macht das jeder. Es ist den einzelnen Teams überlassen, wie sie gut arbeiten können, weil die Setups jeweils anders sind. Ich würde schon sagen, wir sind eher agil, also zum Beispiel das Web-Publish-Team, die arbeiten nach Scrum. In meinem Team ist das nochmal ein bisschen spezieller, da wir auch viel von anderen Teams abhängen. Wir sind da, würde ich sagen, sehr flexibel. Also wir experimentieren viel und wir schreiben nicht eine Version auf und die ist das für die nächsten zehn Jahre. Es ist im Großen und Ganzen flexibel und anpassbar. Und ein großer Fakt ist das asynchrone Kommunizieren, was auch in den Arbeitsstil mit reinkommt. Was sehr, sehr wichtig ist. Also geschriebene Kommunikation ist in Remote Work unabdingbar, das wichtigste überhaupt. In einem Gespräch da kann man Sachen anders ausdrücken oder andere hören es nicht. Aber das geschriebene Wort ist erstens einfacher teilbar und zweitens klarer beschreibbar. Das heißt, dieses geschriebene Wort, dieses Teilen von Informationen, Aufschreiben von Informationen, ist sehr wichtig bei dem Arbeitsstil.

Melanie: Wie macht ihr das? Wie stellt ihr das sicher? Was nutzt ihr für Tools dafür?

Marcus: Die Toolfrage, die kommt immer. Die beantworte ich, indem ich sage, es kommt nicht auf die Tools an, sondern auf die Prozesse. Ein Prozess ist nicht fix niedergeschrieben. Sondern funktioniert irgendwas nicht, passen wir das an. Wir sind da immer sehr dran, dass wir uns verbessern. Der eine Prozess ist, wie wir das gerademachen, ein Video Call. Der andere Prozess ist so eine Art Handbuch, in dem der Inhalt steht, wie die Firma funktioniert. Was bezahlt uns Buffer. Wann ist der nächste Retreat. Oder wie funktioniert das Team. Da steht auch drin, wie wir miteinander kommunizieren. Da ändern sich die Dinge nicht so schnell. Wir sagen Evergreen Content, da er langlebiger ist. Dann gibt es einen anderen Prozess, das sind Protokolle. Und dann wäre der letzte sehr wichtige Prozess, das ist ein Tool für den Prozess der asynchronen Kommunikation. Wir benutzen intern, was ich ziemlich erstaunlich finde, keine E-Mails mehr. Wenn ich dir per Email etwas schreibe, wie „Hey, das sind meine Gedanken, wir müssen darüber diskutieren“, weiß ich nicht, ob du es gesehen hast und wann du darauf antwortest. Das Tool hilft uns, Diskussionen zu führen und Updates zu teilen. Jede Woche habe ich einen wöchentlichen Update Thread, um zu sagen „Hey das machen wir…“ Dann sehe ich, ob Leute das gesehen haben. Personen können das als Follow-up markieren. Das heißt, ich weiß, wenn die mir noch was sagen wollen, und muss nicht fragen „Hey, hast du noch was zu sagen?“, sondern ich sehe das. Das geht einfach und das vereinfacht den Prozess der asynchronen Kommunikation.

Melanie: Das heißt mit diesem Tool kann das asynchron erfolgen, aber es ist transparenter als Email, ich sehe jemand arbeitet dran, hat dran gearbeitet und so weiter. Und deshalb arbeitet ihr intern tatsächlich nicht mehr mit E-Mail?

Marcus: Ja, genau. Wir sind generell radikal transparent. Alle unsere Gehälter, unsere Reviews sind alle von jedem einsehbar.

Melanie: Kannst du den Namen des Tools nennen?

Marcus: Wir benutzen Threads. Solche Tools sind für Teams wie uns ausgelegt, für virtuelle Teams, um zu kollaborieren. Also so wie wir es machen, muss nicht heißen, dass es der perfekte Weg für jeden ist. Das ist halt noch sehr neu diese Form der asynchronen Kommunikation.

Melanie: Gibt es noch etwas, was typisch für euch ist? Oder was ihr anders macht?

Marcus: Also ich weiß jetzt nicht, ob wir es ganz anders machen als andere, aber, wenn ich an Buffers Kultur denke, sind es immer drei Sachen, die mir in den Kopf kommen. Das ist einmal, dass wir bekannt sind in der Start-up Szene, vor allem durch unsere Transparenz. Transparenz ist für uns sehr wichtig und ich sage das auch immer in Vorträgen für Remote Arbeit oder verteiltes Arbeiten, das ist unabdingbar. Die andere Sache ist Self-Improvement. Für uns ist der Status quo nie in Stein gemeißelt. Wir versuchen immer die Sachen zu ändern. Also dieses kontinuierliche Verbessern der Sachen ist sehr, sehr wichtig und gerade, weil diese Art von Arbeit noch relativ neu ist und wir einfach experimentieren müssen. Dieses Experimentieren und die Sachen zu hinterfragen, finde ich sehr wichtig und das machen wir, wie ich finde, recht gut. Und dann ist da noch eine Sache, die wir noch in unserer Kultur haben, eher nach innen, das ist Entrepreneurial Spirit. Das heißt, das spiegelt so ein bisschen wieder, was man als Remote Worker auch braucht, diesen Drang eigenständig arbeiten zu wollen, Vorantreiben von Themen und proaktiv zu sein.

Melanie: Was ist noch wichtig in remote arbeitenden Teams?

Marcus: Beziehung aufbauen ist sehr, sehr wichtig. Natürlich, viele Sachen, die ich sage, sind auch wichtig in anderen Teams. Die kommen nur nochmal sehr viel mehr heraus bei virtuellen Teams. Dieser Verbindungsaufbau zu den Leuten ist wirklich sehr, sehr wichtig, weil man dann gegenseitiges Vertrauen herstellen kann. Nicht nur ich in meine Teammitglieder, sondern auch die in mich. Dass sie wissen, der Marcus steht hinter mir, der kümmert sich um unser Team, dem kann ich vertrauen. Also das ist unabdingbar in jedem Team. Aber in Remote Teams nochmal mehr, weil ich z.B. den einen Entwickler nur zweimal in der Woche mit Gesicht per Video sehe. Oft sieht man nur das Ergebnis einer Person. Wenn derjenige nicht produktiv ist, nicht gut arbeitet, dann muss ich mich da rein fühlen und da hilft es, eine Verbindung zu den Leuten zu haben.

Melanie: Braucht es deiner Meinung nach bestimmte Typen, die so arbeiten können, oder kann man das auch lernen?

Marcus: Eine Frage mit der ich immer ein bisschen zu kämpfen habe. Ich bin der Meinung, dass das jeder kann, aber nicht jeder ist im Moment in der Lage. Manche müssen vielleicht bestimmte Skills dazu lernen, andere haben die schon, aber ich bin der Meinung, dass es jeder kann. Natürlich gibt es Personen, die sagen gleich: „Nein das möchte ich nicht, ich will Leute neben mir haben.“ Jeder kann das für sich entscheiden. Ich bin jedoch der Meinung, dass es jeder kann.

Melanie: Ich habe manchmal den Eindruck, dass die Kommunikation unterschätzt wird in verteilten Teams. Wie siehst du das mit der Kommunikation in Remote Teams?

Marcus: Das ist das A und O. Wenn wir nicht kommunizieren würden, wären wir eigentlich nur Freelancer, die auf der Welt verteilt sind. Also es ist wirklich der Atem der Firma, oder der des Teams, zu kommunizieren.

Melanie: Und da schließt sich eine Frage an. Und zwar, wir sprechen jetzt immer von Team, warum denkst du denn, dass ihr ein Team seid?

Marcus: Sehr gute Frage. Wenn ich nur an die Definition eines Teams denke, kommt das Ziel, die Motivation, der Purpose, das kommt halt vor weg. Mein Team, das Mobile Team, wir haben auch eine Vision, wir arbeiten zusammen und wir motivieren uns gegenseitig, um unsere gemeinsame Sache voranzutreiben. Also das ist, glaube ich, der wichtigste Fakt. Und dann natürlich auch menschlich, dass wir miteinander zurechtkommen, dass wir vor allem auch miteinander besser werden wollen, dieses gegenseitige miteinander wachsen wollen. Ich werde immer wieder gefragt, gibt es eigentlich keinen Neid aufgrund der Transparenz der Gehälter? Habe ich noch nie bemerkt bei Buffer, was jetzt das Gehalt angeht, weil wir einfach wissen wieso. Also diese Sache, dass man sich gegenseitig hilft und zusammen der Vision entgegenarbeitet, das würde ich sagen, macht uns aus als Team.

Melanie: Wie würdest du denn deinen persönlichen Führungsstil beschreiben?

Marcus: Ich glaube, eher ein persönlicher und individueller. Wir klassifizieren das nicht. Natürlich gibt es gewisse Values, die wir als Firma haben. Und bei den Engineering Managern sind wir eine größere Managergruppe. Wir haben ein wöchentliches virtuelles Zusammenkommen, wir reden da viel, tauschen uns gegenseitig aus und Lernen gemeinsam und das macht es, glaube ich, aus. Da baut sich viel miteinander auf, um den Führungsstil in mehrere Richtungen zu bewegen.

Melanie: Gibt es bei euch trotz aller Selbstorganisation auch Hierarchien?

Marcus: Jein. Wir haben Manager, somit haben wir Hierarchien. Ich sehe das jedoch eher als Netzwerk. Es gibt große Punkte und kleine Punkte, aber alles ist miteinander verbunden. Es gibt Hierarchien, aber die sind jetzt nicht die Hierarchien, wie es vielleicht vor dreißig, vierzig Jahren in den Firmen gab. Hauptsächlich ist es meine Aufgabe, die Teamkultur aufrecht zu erhalten, dass alle effektiv arbeiten können, dass alles sicher ist und jeder sich weiterentwickeln kann. Ich würde sagen, als Manager sind wir People Manager. Das macht für mich einen Manager aus.

Melanie: Zum Ende unseres Interviews, was glaubst du, wie werden wir zukünftig arbeiten? Wo geht es hin?

Marcus: Ich glaube, es geht in die Richtung, dass es eine Firma gibt, die dich einstellt und du arbeitest dann wo du willst. Die haben vielleicht ein Büro oder die haben keins, diese Flexibilität, dieses offen sein, ist für mich die Zukunft. Also wenn ich jetzt irgendwann in zehn Jahren den Job wechsle und sage, ich fange bei der Firma X an, die sagt, okay hier ist dein Vertrag, hier ist dein Gehalt, wir sehen uns morgen dann online. Das ist für mich die Zukunft. Ob das total verteilt ist oder ob es ein Büro gibt, wo man ab und zu mal hingehen kann, das ist im Prinzip egal. Es geht hauptsächlich darum, dass wir das virtuelle Arbeiten verstehen und vor allem, dass das Menschliche nicht verloren geht. Dass man transparent, offen und ehrlich bleibt und die Sachen gut vorantreibt und das Menschliche bleibt.

Melanie: Hast du noch eine Botschaft, die du mitgeben möchtest, was diese Art des Zusammenarbeitens betrifft?

Marcus: Nichts in Stein zu meißeln, gerade was die digitale Arbeit angeht, zu experimentieren und zu sagen „Hey, das hat nicht funktioniert, cool, wir probieren mal was Anderes.“ Sei es ein Meeting, sei es, wie man arbeitet, egal. Also nie etwas in Stein zu meißeln für die nächsten fünf Jahre, das wird nicht funktionieren. Und beim virtuellen Arbeiten daran zu denken, dass wir mit Leuten zu tun haben, die irgendwo auf der anderen Seite sitzen und ihre eigenen Sachen zu tun haben, ihre eigenen Erfolge und Probleme haben, die man mitberücksichtigen muss.

Melanie: Dankeschön für die spannenden Einblicke.

Marcus: Sehr gerne.

Digital HR und Künstliche Intelligenz – IBM Watson Career Coach & Co.

Interview mit Sven Semet – Business Development Manager @Assima & Thought Leader IBM Watson

Sven Semet ist seit dreißig Jahren im IT Business tätig. Er war bis Ende 2019 in verschiedenen Rollen bei IBM tätig, u.a. als HR Partner und Thought Leader Watson Talent. Aktuell ist er Business Development Manager bei Assima, wo er in den kommenden Jahren das Thema Künstliche Intelligenz im Gesundheitswesen voranbringen möchte. Zudem spricht er auf Konferenzen u.a. zu Future of Work, New Work, Chancen & Risiken der digitalen Transformation und zum Einsatz von Künstlicher Intelligenz generell und speziell im Einsatz mit IBM Watson. Er ist studierter Informatiker und seit 2012 beschäftigt er sich bereits intensiv mit dem Thema Künstliche Intelligenz im Personalwesen. Er vereint somit die Themen Digitalisierung und HR. Das war ein guter Grund für mich, Sven Semet zu fragen, ob er sich ein Interview mit mir zum Thema Digitalisierung und Künstliche Intelligenz im Human Resources Bereich und im Speziellen zum IBM Watson Career Coach vorstellen könnte. Hier nun das Interview:

Sven Semet – Business Development Manager @Assima & Thought Leader IBM Watson

Melanie: Was ist Ihr beruflicher Hintergrund und was machen Sie derzeit?

Sven Semet: Ich bin seit dreißig Jahren im IT-Business und diese dreißig Jahre, die waren schon spannend, aber die nächsten dreißig Jahre werden noch viel spannender, wahrscheinlich schon die nächsten fünf bis zehn Jahre. Ich bin eigentlich studierter Informatiker, der 2006 zu Personal gewechselt ist und sich seit 2012 im Bereich von künstlicher Intelligenz im Personalwesen tummelt. 2012 hat IBM die Firma Kenexa gekauft. IBM hat sich Kenexa ausgesucht, weil die schon sehr weit ist im Bereich von Eignungsdiagnostik. Seitdem hat eine Entwicklung stattgefunden, bei der IBM die bereits bestehenden Kenexa Lösungen zum Beispiel mit dem Watson Karrierecoach verbindet, auf den Sie ja auch aufmerksam geworden sind, der personalisiert und individualisiert Mitarbeitern Karriereempfehlungen gibt. Das ist mein Steckenpferd, HR-Daten zu nutzen, um bessere Personalentscheidungen treffen zu können. Ich bin jetzt zur Firma Assima gewechselt, die ein Businesspartner der IBM ist und mit der IBM Watson tatsächlich noch mehr Perfomance Support bietet und das insbesondere im Bereich des Gesundheitswesens.

Melanie: Was glauben Sie, wo geht die Entwicklung in der Digitalisierung hin? Wo geht es hin mit der Künstlichen Intelligenz?

Sven Semet: Ich glaube, dass die Zusammenarbeit zwischen Mensch und Maschine zukünftig deutlich besser funktionieren wird. Dass die Mitarbeiter, egal in welcher Branche, ob im Banking, im Gesundheitswesen, im öffentlichen Sektor, aber auch klassisch im Manufacturing und im Retail Business, in ihrem jeweiligen Geschäftsprozess konkrete Handlungsempfehlungen durch KI bekommen. Und diese Handlungsempfehlungen sind datengestützt, durch die KI entsprechend ausgewertet und hochgerechnet, so dass die bestmögliche Aktion für eine Handlung rauskommt, z.B. entweder Teile einzukaufen oder einen Termin zu vereinbaren oder eine Kreditfreigabe zu erteilen oder was auch immer.

Melanie: Das finde ich spannend, weil Sie explizit Handlungsempfehlungen sagen. Heißt das, am Ende entscheidet der Mensch, was er damit macht und wie er mit diesen Daten arbeitet?

Sven Semet: Ja, das ist unsere Philosophie und mein festes Verständnis. Die letzte Entscheidung trifft immer der Mensch auf Basis einer entsprechenden Vorhersage. Ich kann natürlich schon viel automatisieren, aber eine letztendliche Entscheidung sollten dann immer Menschen treffen.

Melanie: Gerne würde ich jetzt genauer auf den HR-Bereich schauen. Wo wird da KI überall reinspielen? Was glauben Sie, was kommt da?

Sven Semet: In allen Ebenen, in der kompletten Personalkette wird sicherlich KI-Unterstützung kommen oder sie ist schon da. Im Recruitment sind wir schon ziemlich weit. Deshalb unterscheiden wir auch zwischen Kandidat und Bewerber. Der Kandidat ist jemand, der für das Unternehmen passen könnte, der muss im Netz gefunden werden. Also da gehen wir ins Active Sourcing oder Direct Sourcing. Dann geht es darum, die Kandidaten anzusprechen, möglichst mit einem interessanten Statement über das Unternehmen und sie anschließend mit einer passenden offenen Stelle zu matchen. Da können auf Basis der Daten eines Kandidaten bereits sehr tiefgreifende Analysen stattfinden. Ein schönes Beispiel ist ein gerade fertig gewordener Bachelor Student im Bereich Informatik. Der sucht nicht unbedingt eine Cyber-Security Stelle. Cyber-Security Stellen sind absolut unterbesetzt, es sind viel zu wenig Kandidaten da. Aber die KI kann möglicherweise in dem Profil dieses Informatikstudenten erkennen, dass er ein Faible für Datenschutz und für Security hat. Möglicherweise hat er auch in seinem Studium schon mal ein Praktikum im Bereich Datenschutz gemacht hat. Dementsprechend könnte hier dem Informatikstudenten eine Cyber-Security Stelle angeboten werden. Und es könnte ein Best Match werden. Das kann die KI möglicherweise deutlich besser als der Mensch. Die IBM macht das jetzt schon seit mehr als drei Jahren und sie haben in der Zwischenzeit bessere Kandidaten auf offenen Stellen. Das merken weniger die Recruiter, sondern die Fachabteilungen, die die Rückmeldung geben, ihr liefert uns bessere Bewerber in der Zwischenzeit. Und das ist natürlich ein Riesen-Asset, was da aus der KI kommt.

Melanie: Und wie sieht es in den anderen HR-Bereichen aus, z.B. in der Weiterbildung und der Beurteilung eines Mitarbeiters?

Sven Semet: Ja, gerade die Weiterbildung ist ein zweiter interessanter Bereich für die KI. Nicht mehr im Gießkannenprinzip irgendwelche Weiterbildungen auszuschütten, quasi auf Jobrollen bezogen, sondern mehr personalisiert und individualisiert. Darauf einzugehen, was kann der Mitarbeiter schon und aus welcher Lernhistorie kommt er. Und die Krönung ist dann anhand des Karrierepfades und dem, was der Mitarbeiter bereits mitbringt, passende Lernempfehlungen zu geben. Die Lernempfehlungen sollten nicht nur ein E-Learning beinhalten, das kann vielfältig sein, ein Praktikum, ein Klassenraum-Training oder ein Virtual Classroom. Da gibt es ja Lernpräferenzen von Personen und auch dies kann das System entsprechend berücksichtigen.

Melanie: Welche Rolle spielt dann noch der Mensch als Personalentwickler? Gibt es den Personalentwickler zukünftig noch oder hat der eine ganz andere Rolle?

Sven Semet: Den Personalentwickler wird es sicherlich weiterhin geben, aber tatsächlich mit einer anderen Aufgabenstellung und auch anderen Kompetenzen. Er sollte verstehen, wie die digitalen Systeme funktionieren. Also was habe ich für Daten in den Systemen. Deshalb kommen wichtige digitale Kompetenzen und Skills hinzu, die ein Personalentwickler zukünftig haben muss.

Melanie: Nehmen wir jetzt noch das Thema Personalbeurteilung. Wie kann man da mit KI arbeiten?

Sven Semet: Ja, da wird es ein bisschen schwieriger. Das hängt davon ab, wie ein Unternehmen in der Mitbestimmung aufgestellt ist und welche Daten zur Verfügung gestellt werden können. Da fällt oft der Begriff Reputation eines Mitarbeiters im Unternehmen. Und je besser die Reputation eines Mitarbeiters im Unternehmen ist, desto mehr Anerkennung und Wertschätzung und auch monetäre Anerkennung sollte der Mitarbeiter entsprechend bekommen. Bei IBM arbeitet man aktuell tatsächlich an einem so genannten Cognitive-Pay-System. Also einer Empfehlung der KI für monetäre Anerkennung, also Bonuszahlung, Gehaltsempfehlung oder Gehaltserhöhungsempfehlung auf Basis der KI. Das wird sicherlich in Ländern oder Geschäftsbereichen, wo die Mitbestimmung sehr stark ist, nicht so trivial einzuführen sein.

Melanie: Damit kommen wir zum Thema Mitbestimmung und dem Umgang mit Daten. Wie bewerten Sie das, wie gehen Sie damit um?

Sven Semet: Ich finde eine GDPR, oder DSGVO war auf jeden Fall dringend überfällig. Die Frage ist jetzt, was wir damit machen. Viele Unternehmen haben die Konsequenz daraus gezogen, dass sie weniger Daten speichern und nutzen, bevor sie in die Diskussion mit den Mitarbeitern oder auch den Kunden gehen, was er oder sie für einen Benefit davon haben kann. Ich glaube, da ist eigentlich der Knackpunkt, wenn der Mitarbeiter den Benefit sieht, dass aus den Daten die richtigen Erkenntnisse und Schlüsse gezogen werden, dann wäre der Mitarbeiter auch viel offener und bereit Daten freizugeben. Da muss man versuchen, Offenheit zu diskutieren, Transparenz und Nachvollziehbarkeit reinbringen. Dann wären die Mitarbeiter, glaube ich, offener dafür entsprechende Daten zur Verfügung zu stellen. Hier braucht es natürlich auch eine gewisse digitale Kompetenz. Ich empfehle allen Unternehmen, bindet eure Mitbestimmung frühzeitig mit ein und bildet alle involvierten Funktionen in digitaler Kompetenz weiter, damit verstanden werden kann, was mit den Algorithmen et cetera möglich ist. Und zeigt entsprechend auf, dass grundsätzlich nichts Böses damit gewollt ist. Sondern wir wollen alle den besseren nächsten Schritt machen.

Melanie: Jetzt möchte ich gerne genauer auf den IBM Watson Career Coach schauen, was kann der denn alles? Wie kann ich mir das vorstellen, ich bin jetzt Mitarbeiter und möchte mit diesem in Kommunikation treten. Was kann ich da alles machen, was sagt der mir?

Sven Semet: Grundsätzlich muss man hier wissen, dass der Karriere-Coach ein Tool für den Mitarbeiter ist, ein Navigationssystem für die Karriere. Dessen Daten auch nur für den Mitarbeiter zur Verfügung stehen. Dahinter liegen anonymisierte Auswertungen, also wie nutzen die Mitarbeiter dieses Tool, aber auf Müller, Maier, Schmidt werden da keinerlei Analysen gefahren. Die erste Funktionalität, die der Karrierecoach hat, ist ein Chatbot. Einen Chatbot, den ich alles fragen kann in Bezug auf meine Karriere: „Was ist mein nächster Karriereschritt, was sollte ich denn möglicherweise lernen? Was kann ich denn in der nächsten Karrierestufe verdienen?“ Ich kann da beliebige Fragen stellen und bekomme Antworten oder auch Rückfragen in Form von: „Hast du einen Mentor, hast du einen Coach? Du hast keinen Mentor, willst du einen Mentor haben? Hier gibt es eine Datenbank an Mentoren, die suchen neue Mentees. Soll ich dir einen Termin vermitteln zwischen Mentor und Mentee? Hier gibt es ein Formular, eine entsprechende Mentoren-Vereinbarung…“ Der Chatbot hat auch Zugriff auf sämtliche offene Stellen, die es im Unternehmen gibt. Also kann er hier auch offene Stellen empfehlen. Dann kann der Chatbot oder das System noch aufzeigen, was dem Mitarbeiter möglicherweise noch an Skills und Kompetenzen fehlt, damit er optimal für diese offene Stelle passt. Also es ist tatsächlich ein Kriterium Medium-Fit, High-Fit oder Low-Fit auf diese offene Stelle. Und wenn ich dort kein High-Fit habe, dann fehlen mir Kompetenzen und Skills und es kommt eine Empfehlung, was ich noch lernen sollte, damit ich diesen Skill und diese Kompetenz aufbauen und mich dann entsprechend auf diese Stelle bewerben kann. Außerdem ist noch eine weitere Funktionalität drin, was jetzt einige Unternehmen in ihrer Transformation nutzen, wie groß ist der Demand im Unternehmen diese Stellen zu füllen. Da arbeitet man mit Low Demand, Medium Demand oder High Demand. Da haben wir zum Beispiel die Automobilbranche, die weg vom Verbrennungsmotor zur Elektrifizierung geht. Die Unternehmen wissen, sie kriegen die Mitarbeiter für Elektrifizierung nicht vom Markt. Das heißt, sie müssen umschulen und da kann ich dann mit so einem Karrierecoach schön arbeiten und sage ihm: „Mitarbeiter, es gibt offene Stellen mit einem hohen Demand in anderen Geschäftsbereichen, dafür müsst ihr Folgendes lernen und dann könnt ihr euch entsprechend darauf bewerben.“ Also ich kann durch den Karrierecoach auch eine Transformation bei einem Mitarbeiter unterstützen. Und bei offenen Stellen gibt es noch ein Navigationssystem, wo ich anklicken kann, welche offenen Stellen interessieren mich und die dann miteinander vergleichen. Es gibt dabei nicht nur klassische Karrierepfade, wie z.B. ich bin ein Junior IT-Spezialist, werde Senior Spezialist, werde dann ein Executive IT-Spezialist. Ich kann auch als IT-Spezialist Projektmanager oder Architekt werden und dann vielleicht sogar in den Vertrieb gehen. Das kann ich entsprechend darstellen, wenn ich die Karrierewege oder Pfade im Unternehmen beschrieben habe.

Melanie: Wie lange ist der Career Coach schon im Einsatz?

Sven Semet: Die IBM hat ihn 2016 entwickelt, in den Rollout kam er 2017. Also gute zwei Jahre ist der Karrierecoach im Einsatz.

Melanie: Wie viele Mitarbeiter nutzen den virtuellen Karriere Coach bereits?

Sven Semet: Das weiß ich aktuell nicht so genau, die letzte Zahl, die ich im Sommer noch gehört habe, waren 170.000 IBMler haben Zugriff das sind bei 380.000 IBMler also schon gut ein Drittel.

Melanie: Wo geht es damit hin? Wie muss ich mir so ein Zukunftsszenario gerade im HR-Bereich vorstellen. Ich habe diesen Career Coach und nehme jetzt an, er wird immer intelligenter, immer schlauer, je nachdem wie wir es nennen möchten. Der kriegt immer mehr Daten und kann bessere Aussagen treffen, kann mir bessere Empfehlungen geben. Wie kann ich mir da eine Schnittstelle zum Menschen, nicht nur zum Mitarbeiter, sondern auch zum HR-Mitarbeiter vorstellen?

Sven Semet: Die HR-Mitarbeiter werden sicherlich auf Basis von Dashboards und Reportings entsprechend Auswertungen bekommen und dann auch sehen, wie sich die Mitarbeiterschaft weiterentwickelt. Diese Daten werden immer besser. Und ich kann auch sicherlich zukünftig bessere Vorhersagen machen. Was muss ich denn zum Beispiel tun, damit eine Retention im Unternehmen akzeptabel bleibt und damit ich möglicherweise die Unternehmensstrategie in den neuen Technologien entsprechend unterstütze. IBM hat zum Beispiel die letzten circa zwei Jahre das Thema Blockchain sehr stark fokussiert und rollenbasiert alle Mitarbeiter in der Blockchain Technologie geschult. Da hat natürlich ein Finanzer und ein HRler etwas weniger bekommen als die IT-Spezialisten und Projektmanager und erst recht der Vertrieb, auch dort wurde rollenbasiert eine Weiterbildung gemacht. Und das ist so eine typische Geschichte, die für einen Personalentwickler interessant ist. Es gibt eine neue Technologie und ich muss das entsprechend ins Unternehmen transportieren. Damit dort die neuen Projekte mit den Skills und Kompetenzen unterstützt werden können. Der Mitarbeiter selber – da bin ich felsenfest überzeugt -bekommt persönlich immer mehr Daten über sich selber und kann damit die Vielfalt der Möglichkeiten im oder auch außerhalb vom Unternehmen besser nutzen.

Melanie: Was würden Sie sagen, wie gehen die jungen Generationen mit diesen neuen technologischen Möglichkeiten um? Was bekommen Sie mit? Sind diese offener oder kritischer? Ich selbst habe festgestellt, dass dies sehr unterschiedlich ist.

Sven Semet: Ja, ich würde auch bestätigen, dass es da nicht ein Muster der Generation Z oder der Generation Y gibt, sondern tatsächlich, dass es sehr vielfältig ist. Generell erlebe ich aber eine gewisse Offenheit, Daten zur Verfügung zu stellen, auch ohne eine Erwartungshaltung. Gerade im Recruitment: „Ich habe keine Lust hier und da zig Masken auszufüllen und irgendwelche Dokumente hochzuladen et cetera. Das steht doch alles in meinem LinkedIn oder Xing Profil, nutzt doch die Daten, die dort stehen.“ Das entwickelt sich langsam in Europa, noch langsamer in Deutschland. In anderen Ländern ist das LinkedIn Profil bereits sehr weit fortgeschritten. Und dementsprechend wird das zur Authentifizierung gerade im Recruiting Bereich schon genutzt. Also von dem her ist da immer mehr Offenheit an der Stelle. Was sich abzeichnet für Unternehmen, ist der Fokus der jüngeren Generationen, tatsächlich etwas Sinnvolles zu arbeiten. Und dass der Purpose des Unternehmens eine wichtige Rolle spielt. Für was steht das Unternehmen, wie positioniert sich das Unternehmen auch zu aktuellen Marktgegebenheiten, zu neuen Technologien, aber auch zu gesellschaftskritischen Themen. Und von dem her müssen sich die Unternehmen auch entsprechend positionieren und können da gewinnen oder möglicherweise auch verlieren. Das wird sicherlich in den Daten noch etwas wenig reflektiert. Wie passe ich da als Mitarbeiter zu einem Unternehmen? Ich könnte mir gut vorstellen, dass das eine schlaue Weiterentwicklung sein wird: „wofür interessiere ich mich als Mitarbeiter, was möchte ich denn wirklich erreichen als Mitarbeiter?“.

Melanie: Wozu möchte ich beitragen? Was ist mir an einem Unternehmen wichtig, was kann ich dafür tun?

Sven Semet: Genau, wir haben dazu tatsächlich schon eine kleine Watson Funktionalität. Wir nennen das Social Listening. Also das Social Listening von Watson versucht herauszufinden, was sind die Schwachpunkte der aktuellen Anstellung im Gegensatz zu den positiven Punkten des eigenen Unternehmens. Und was sind die Vorlieben des Kandidaten. So in der Form: „dein heutiges Unternehmen bietet so gut wie nichts im beruflichen Gesundheitsmanagement. Wir haben folgende Angebote bei uns im Unternehmen… Wir wissen du läufst gerne oder machst gerne Yoga oder ernährst dich gerne gesund. Wir haben im Unternehmen übrigens folgende Laufgruppen in der Lokation…“ Solche wirklich individualisierten, personalisierten Diskussionsvorschläge, das kann Social Listening leisten.

Melanie: Wenn man jetzt nach draußen schaut, was in den Unternehmen passiert. Wie sind denn die HR-Abteilungen darauf verbreitet? Was beobachten Sie da?

Sven Semet: Auch da gibt es natürlich die ganze Bandbreite, teils, teils. Ich bin ja viel auf Konferenzen unterwegs und halte entsprechende Vorträge und führe Diskussionen. Da bekommt man Feedback wie, das ist ja Science-Fiction bis hin zu, machen wir auch schon.

Melanie: Jetzt gibt es noch ein Thema, da möchte ich gerne genauer draufgucken. Wenn man sich die HR-Abteilungen anschaut, da gibt es sicherlich Menschen, die sagen, „mir macht das Angst, was da passiert. Ich weiß gar nicht, wie ich damit umgehen soll. Dann gibt es da so einen Chatbot, was mache ich denn jetzt als HR-Mitarbeiter, braucht es mich irgendwann noch, werde ich noch erforderlich sein?“ Was kann man aus Ihrer Sicht machen, um mit diesen Ängsten umzugehen?

Sven Semet: Eine wichtige Diskussion, eine wichtige Fragestellung. Da kann man jeden HRler nur motivieren, sich kontinuierlich weiterzubilden. Kontinuierliche Weiterbildung ist auch für den HRler zwingend notwendig und wer das verpasst, der wird sich tatsächlich dann irgendwann mal die Fragestellung gefallen lassen müssen. Eine Gehaltsabrechnung wird möglicherweise irgendwann kaum mehr ein Unternehmen selber machen. Viele haben es ja jetzt schon ausgelagert. Auch im Recruiting brauchen wir irgendwann niemanden mehr, der Bewerbungsunterlagen lesen und eine Erstauswahl treffen wird, das macht zukünftig ein Algorithmus. Aber was man brauchen wird, ist dann jemand, der zum Beispiel den Chatbot „füttert“. Weil im Chatbot möglicherweise Fragen reinkommen, die der Chatbot standardmäßig nicht beantworten kann. Dort muss jemand quasi als Journalist, als Redakteur darauf achten, welche Fragen der Chatbot nicht beantworten kann und wie füttere ich den Chatbot dann möglicherweise mit neuen Inhalten. Da gibt es dann neue Jobs in HR und da müssen die Personaler offen sein für Veränderungen.

Melanie: Das ist das eine. Was können Unternehmen tun, was kann die Gesellschaft und die Politik tun?

Sven Semet: Da gibt es schon einige Initiativen, z.B. aus der Wirtschaft heraus, die das Thema digitale Kompetenz in der Gesellschaft beflügeln. Eines meiner letzten Projekte in der IBM war das Launching der Plattform Skills Build. Wo wir in einem digitalen Lernformat Lernende weiter bilden in digitalen Kompetenzen. Dort geht es darum, zu lernen, was ist Design Thinking, was ist Creative Problem Solving, wie entwickle ich einen Chatbot. Es geht auch in das App Development rein. Und was ist eine User Experience. Das ist ein Zyklus von drei bis vier Monaten, den wir dort mit Lernenden durchlaufen und kleine Projekte machen und somit entsprechend qualifizieren. Da gibt es ganz viele Initiativen. Das könnte natürlich sicherlich noch mehr gefördert werden, sage ich mal durch die Politik an dieser Stelle. Wobei ich hier in Baden-Württemberg auch eine Initiative begleite. Das Wirtschaftsministerium hat letztes Jahr die sogenannten Digihubs announced. Das sind zehn Hubs in Baden-Württemberg, die mit einer Million Euro ausgestattet sind, die speziell den Fokus auf Mittelstand und Kleinbetriebe haben, digitale Skills in ihrer Region mit entsprechenden Formaten zu entwickeln. Das ist zum Beispiel eine Initiative vom Wirtschaftsministerium Baden-Württemberg, was da ganz vorne mit dabei ist. Auch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat viele tolle Initiativen gestartet. Unter Experimentierräume.de findet man viele solcher Initiativen mit einem entsprechenden Förderbudget. Aktuell darf ich noch eine Studie begleiten, wo wir untersuchen, wie denn die Auswirkung von künstlicher Intelligenz auf die Arbeitswelt aussehen wird. Das machen wir gemeinsam mit Verdi als Gewerkschaft und IBM in Kooperation mit dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Die ersten Erkenntnisse der Studie haben wir auf der Zukunft Personal in Köln vorgestellt. Und das ist nicht so dramatisch für die Personaler. Die Angst ist da größer, als tatsächlich Chancen existieren. Das werden wir im Frühjahr und Sommer dieses Jahres noch deutlicher darstellen können. Und mit der Telekom gibt es eine Untersuchung, wie die künstliche Intelligenz die Telekom Mitarbeiter in ihrer Tätigkeit unterstützen kann. Da wird gerade ein Feldexperiment aufgesetzt.

Melanie: Gibt es jetzt am Ende des Interviews noch etwas, das Sie gerne mitgeben möchten?

Sven Semet: Mein persönlicher Weg ist aktuell gerade raus aus der IBM, rein zur Assima mit der Intention, das Thema künstliche Intelligenz noch mehr in die Praxis zu bekommen. Mir liegt das Thema Gesundheitswesen stark am Herzen, also der Healthcare Bereich. Weil ich glaube, dass wir bei dem überall fehlenden Personal im Gesundheitsbereich, egal ob Krankenschwester, Pfleger, Ärzte et cetera, deutlich besser unterstützen können. Das ist meine Motivation unter dem Titel „Leben retten mit künstlicher Intelligenz“ und die nächsten zwei, drei Jahre auf jeden Fall einige Leuchtturmprojekte zu künstlicher Intelligenz im Gesundheitswesen zu ermöglichen.

Melanie: Ich bedanke mich ganz herzlich für das spannende Interview.

Sven Semet: Sehr gerne.  

Digitale Führung von verteilten Teams – Vertrauen als essentielle Basis

Interview mit Verena Rathjen, Vice President EMEA bei Axis Communications

Verena habe ich während meiner Tätigkeit bei Siemens Management Consulting kennen und schätzen gelernt. Von da ist sie zu OSRAM als M&A Integration Manager und hat sich bis zum Head of Strategy einer Business Unit entwickelt. Ihr nächster Schritt war die Rolle des CEO Global Luminaires und SMART Business sowie im Anschluss Head of LED LAMPS EUROPE bei LEDVANCE (Carve-out von OSRAM). Seit 2017 ist sie Vice President EMEA bei Axis Communications, einem weltweit führenden Anbieter von netzwerkbasierten Sicherheitslösungen, wie z.B. Videoüberwachung, Zugangskontrolle und Audiosysteme.

Verenas Teammitglieder arbeiten verteilt in verschiedenen Ländern. Dadurch findet ihre Führung primär digital und auf Distanz statt. Das war für mich der Grund Verena zu fragen, ob ich sie zum Thema „Digitale Führung von verteilten Teams“ interviewen könnte. Hier nun das Interview:

Verena Rathjen, Vice President EMEA bei Axis Communications

Melanie: Würdest du zunächst mal deine aktuelle Rolle und Aufgaben beschreiben?

Verena: Ja, mein Jobtitel ist EMEA Vice President. Das umfasst die Verantwortung für die erweiterte Sales-Organisation in EMEA, also Europa, Middle East und Africa. Dazu gehören alle Sales-Funktionen, also der operative Vertrieb als auch Sales Engineering, Business Development, Marketing, sowie Finance und HR. EMEA ist in fünf „Regionen“ aufgeteilt, jede dieser Regionen agiert als autarke Landesgesellschaft, allerdings ohne Portfolio-Entwicklungsverantwortung. Das ist zentralisiert. Genauso wie R&D, Supply Chain und Logistik, das wird komplett zentral geregelt.

Melanie: Und für wie viele Teammitglieder bist du verantwortlich?

Verena: Also ich habe zehn Direct Reports, davon fünf Regionenleiter in den fünf Regionen in EMEA. Und die restlichen fünf sind funktional Verantwortliche. Ich will mal sagen, wie eine kleine Matrix, die ich jetzt allerdings neu installiert habe. Bevor es meine Rolle gab, gab es tatsächlich nur die fünf Regionenleiter. Die funktional Verantwortlichen für Sales Engineering/Portfolio, Business Development, Marketing sowie Finance und HR sind neu eingezogen worden.

Melanie: Wie würdest du die Anteile beschreiben, wie viel machst du face-to-face und wie viel machst du digital und verteilt?

Verena: Ich würde sagen in real fünfzig – fünfzig, wenn ich mich selbst anschaue. Da ich versuche, zweieinhalb Tage die Woche in einer Region vor Ort zu sein. Die anderen fünfzig Prozent sind Reisezeit und Arbeiten im Home-Office. Aus Teammitglied-Perspektive ist es natürlich viel weniger. Wie oft sieht mich ein Teammitglied? Das ist wahrscheinlich fünf Prozent der Zeit, wenn überhaupt.

Melanie: Wie muss ich mir das genau vorstellen, einmal im Monat oder alle paar Monate? Wie häufig sehen dich deine Teammitglieder?

Verena: Ich schaue, dass ich pro Quartal einmal in jeder Region bin. Es gibt zusätzlich noch gemeinsame Kundenveranstaltungen, Messen oder andere Treffen in der Zentrale, wo ich meine Teammitglieder auch sehe, ohne dass ich das organisiert habe. Aber jetzt rein von mir organisiert, auf jeden Fall einmal im Quartal und durch die gemeinsamen Events würde ich sagen, dreimal in einem halben Jahr, wirklich live, face-to-face.

Melanie: Was würdest du sagen, was ist für dich wichtig bei so einem verteilten Team? Was braucht es, damit das funktioniert?

Verena: Ich glaube, Selbstständigkeit ist ein wichtiger Aspekt. Wenn ich es aus meiner Perspektive einschätze, würde ich sagen, die Erfolgschancen sind höher mit senioren Teammitgliedern, die es gewohnt sind, auf Distanz zu arbeiten, als Juniore, die vielleicht viel mehr Führung erwarten.

Melanie: Das ist interessant. Was ist aus deiner Sicht noch wichtig?

Verena: Wie in jeder Zusammenarbeit ist Vertrauen eine wichtige Grundlage, mit der Herausforderung, dass man sich so wenig sieht. Da dauert es im Zweifel länger, eine entsprechende Vertrauensbasis aufzubauen. Das empfand ich gerade am Anfang meiner Tätigkeit als Hauptherausforderung. Ich finde es selbst einfacher, eine Vertrauensbasis aufzubauen, wenn man sich sieht. Dann hat man gemeinsame Erlebnisse. Man geht mal was essen, tauscht sich spontan aus und so weiter. Wenn man sich nur einmal im Quartal sieht, ist das wenig, bis man sich das zweite Mal gesehen hat, sind schon drei Monate rum. Da ist wenig Zeit zur Verfügung, um das wirklich aufzubauen und dazwischen geht ja das Geschäft weiter. Das fand ich am Anfang sehr herausfordernd, dabei einen guten Weg zu finden, sich schon in gewisser Weise Zeit zu lassen und zu versuchen, über die anderen digitalen Wege trotzdem in der Vertrauensarbeit voranzukommen.

Melanie: Also Vertrauen ist ein ganz wichtiger Punkt. Du hast vorhin noch etwas ganz Interessantes gesagt, dass diese Form der Zusammenarbeit mit senioren Mitarbeitern leichter ist. Ich könnte mir auch vorstellen, dass es mit jungen Mitarbeitern einfacher ist. Die sind es ja gewohnt, digital zu arbeiten. Kannst du das noch mal ein bisschen erläutern?

Verena: Ja, in meinem speziellen Konstrukt habe ich viele seniore Teammitglieder, die es schon gewöhnt sind, so zu arbeiten. Meine Vorgängerin war weltweit verantwortlich. Das heißt, sie hatte noch mehr Regionen abzudecken und war dadurch noch weniger präsent als ich es jetzt sein kann. Und dadurch, dass Axis als Unternehmen sehr stabil ist in den Personalstrukturen, waren die Mitarbeiter es die letzten Jahre oder sogar Jahrzehnte bereits gewöhnt, ihre Führungskraft ungefähr nur zweimal im Jahr zu sehen. Deshalb ist es jetzt eine Verbesserung, dass ich jeweils viermal im Jahr in den einzelnen Regionen sein kann. In der Hinsicht ist Seniorität aus meiner Sicht ein Vorteil, wenn die Personen es gewöhnt sind, mit wenig persönlichem Kontakt auszukommen und sehr selbstständig zu arbeiten. Das passt auch in unsere Unternehmenskultur, die sehr dezentral organisiert ist. Somit gibt es per se viel Handlungsfreiheit in den Regionen. Die funktionalen Bereiche – da sind durchaus auch jüngere Verantwortliche dabei – sind es bisher gewöhnt, viel Kontakt in einer Teamstruktur zu haben. Für die Mitarbeiter wird es eventuell eine größere Herausforderung, vor allem digital zu arbeiten, aber nicht mehr die lokale Teamstruktur um sich herum zu haben.

Melanie: Du hast gesagt, dass einige Mitarbeiter es schon gewohnt sind, auf Distanz zu arbeiten. Das würde bedeuten, dass man sich da erst reinarbeiten muss, reingewöhnen muss?

Verena: Ja, für mich selber war es tatsächlich auch eine Umstellung. Ich war in meinen vorherigen Tätigkeiten in der Regel jeden Tag mit meinem Team im Büro. Da waren vielleicht achtzig Prozent im Büro und zwanzig Prozent irgendwo anders in der Welt unterwegs. Aber ich hatte immer jemanden um mich rum. Und das ist natürlich schon was Anderes, weil man viel mehr mitkriegt, auch spontan, was Stimmungen und die Verteilung von Aufgaben betrifft. Das geht alles nicht in der digitalen Führung. Also spontan geht eigentlich gar nichts mehr. Natürlich kann man anrufen. Da meine Teammitglieder wiederum sehr digital arbeiten, sind die auch sehr durchgeplant, weil deren Teams auch verteilt sind. Also spontan jemanden ans Telefon zu kriegen, ist schwierig.

Melanie: Was bedeutet das für dich in deiner Führungsrolle?

Verena: Ich bin ganz stark darauf angewiesen, dass meine Teammitglieder ein entsprechendes Vertrauen haben und Dinge mit mir teilen. Im Büro kriegt man es schon eher mit, wenn irgendwas nicht läuft. Das fällt komplett weg. Also ich bin viel stärker darauf angewiesen, dass die Leute proaktiv Dinge mit mir teilen, gerade auch Dinge, die nicht laufen, womit wir wieder beim Vertrauen wären. Und ich muss darauf vertrauen, dass meine Mitarbeiter rechtzeitig die Hand heben und gerade bei Eskalationsthemen möglichst zügig Bescheid sagen.

Melanie: Dieses Thema Vertrauen ist ja super spannend. Das sagen die meisten, du brauchst unbedingt Vertrauen, gerade beim Führen auf Distanz. Aber wie kriegt man denn Vertrauen? Wie hast du das gemacht?

Verena: Ein Aspekt ist auf jeden Fall aus meiner Sicht der regelmäßige persönliche Kontakt, auch wenn er nicht so häufig ist. Und Wertschätzung, Interesse am anderen. Und dann natürlich die Frequenz, in der man sich austauscht, egal ob face-to-face oder digital. Wenn digital, dann immer mit Video. Am Telefon machen oft alle parallel was Anderes. Also wo es geht, Video. Das war ein Learning über die Zeit, auch für mich selber. Ich nehme mich gar nicht aus. Wenn ich eine Telefonkonferenz habe und währenddessen unterwegs bin, dann bin ich abgelenkt und nicht richtig dabei. Also in regelmäßiger Frequenz viel miteinander teilen. Ich versuche selbst, viel mit meinen Teammitgliedern zu teilen. Also alles, was ich an Infos bekomme, z.B. aus dem Management Team von Axis gebe ich weiter, bis auf hochsensitive Themen, die ich nicht teilen darf. Aber ansonsten ist ein komplett transparenter Flow sehr wichtig. Das schafft auch Vertrauen. Dann ist wiederum ein anderer auch bereit, was von sich zu teilen. Ich teile auch bewusst hier und da persönliche Geschichten, um mich nahbarer zu machen. Also das hat jetzt gar nichts unbedingt etwas mit digital zu tun. Das finde ich immer in der Führung wichtig, dass man sich öffnet und einen persönlichen Teil einbringt. Und ein weiterer wichtiger Punkt, eine klare Erwartungshaltung und Rahmenbedingungen zur Zusammenarbeit. Ich gebe z.B. Formate vor, wie ich mir Durchsprachen vorstelle. Das kann ganz einfach sein, Highlights und Lowlights und anstehende Termine/Events, das reicht oft schon. Aus meiner Erfahrung heraus, muss ein Format her. Das führt dazu, dass sich alle vorbereiten müssen und dass man eine gewisse Struktur hat. Und genau die Struktur findet sich dann auch in den gemeinsamen Meetings wieder. Zudem habe ich mit jedem einen Individual Contract gemacht. Das fanden die meisten erst ganz seltsam, weil das augenscheinlich eher „triviale“ Dinge sind, wie z.B. „was ist dir in der Zusammenarbeit wichtig“ und so weiter. Aber da kommen teilweise ganz interessante Dinge raus: mich zum Beispiel erreicht man am besten über eine WhatsApp-Nachricht, weil ich meine Mailbox nicht regelmäßig und auch nur ungern abhöre. Jeder hat da unterschiedliche Präferenzen. Der eine sagt, für mich funktioniert E-Mail besser, der andere sagt, mich musst du immer anrufen oder du kannst mich am besten abends anrufen, mich bitte nicht nach 15 Uhr, in Dubai ist der Freitag frei… Und dann haben wir noch einen Team Contract mit dem ganzen Team gemacht.

Melanie: Das passt gut, lass uns mal das Team ein bisschen genauer anschauen. Ich könnte jetzt auch provokativ fragen, ist das überhaupt ein Team oder ist es nur eine zusammenarbeitende Gruppe?

Verena: Ja, ich würde sagen, es ist ein Team bzw. es wächst als Team zusammen. Ein zentrales Element sind die sogenannten „Strategy Sessions“. Die sind zweimal im Jahr, jeweils zweieinhalb Tage in einer Region. Da kommen alle zusammen und arbeiten an bestimmten Themen. Beim ersten Mal hatten wir nur das Thema Team bzw. Team Contract: „wo wollen wir hin, warum sind wir als Team zusammen, wie wollen wir uns austauschen und über was für Themen“. Weiterhin haben wir einmal im Monat einen Austausch, einen virtuellen Jour Fixe. Da stellt jeder seine Highlights und Lowlights vor. Den Mehrwert dieses Meetings sicherzustellen, ist eine Hauptaufgabe von mir. Also ich muss diejenige sein, die am meisten aufpasst und Bezüge zwischen den Themen aus den verschiedenen Regionen herstellt, sowie Rückmeldung geben, hinterfragen und zusammenfassen.

Melanie: Du musst also u.a. moderieren können. Welche Kompetenzen, brauchst du noch in so einer Rolle?

Verena: Ganz wichtig ist Teamentwicklungs-Kompetenz, wenn man die Mitarbeiter wirklich als Team führen will. Das ist meine Vision, dass wir als Team arbeiten, weil ich daran glaube, dass da Mehrwert drinsteckt, vor allem durch inhaltliche Synergien. Aus meiner Sicht hilft es zudem, wenn man prozessstabil agiert. Das hängt mit meinem persönlichen Stil zusammen. Ich halte es für wichtig, dem Team Strukturen vorzugeben, wenn man auf was Gemeinsames hinarbeiten will.

Melanie: Was würdest du denn noch sagen, was wichtig ist beim Führen auf Distanz im Vergleich zum face-to-face Führen?

Verena: Neben dem bereits genannten Vertrauen, offen und transparent zu agieren und Zulassen des gefühlten Kontrollverlusts. Homeoffice ist da ein gutes Beispiel. Wie groß das in manchen Unternehmen diskutiert wird, ob die Mitarbeiter einen einzelnen Tag Homeoffice pro Woche bekommen oder nicht… das verstehe ich nicht. Mit dem nötigen  Grundvertrauen und gleichzeitig passenden Regeln und Strukturen, an denen sich jeder orientieren kann, ist das für alle ein Gewinn. Und die Einhaltung der Strukturen fordere ich auch ein. Wenn meine Teammitglieder nicht vorbereitet waren, dann habe ich auch schon Meetings abgebrochen.

Melanie: Gibt es noch irgendwelche Tools, die du einsetzst oder auch Mitarbeitergespräche und Feedback-Gespräche?

Verena: Mitarbeitergespräche und Feedback-Gespräche haben wir zweimal im Jahr, einmal die klassische Zielvereinbarung und ein Halbjahresgespräch dazu. Zudem bestehe ich darauf, dass ich auch Feedback bekomme. Das ist noch ungewohnt für viele und einige sind immer wieder überrascht, dass ich aktiv danach frage. Das ist aus meiner Sicht ein super Tool, insbesondere für das Vertrauensthema.

Melanie: Jetzt möchte ich gerne noch auf die Organisationskultur eingehen. Was glaubst du denn, was die für eine Rolle spielt, bei so einer Art des Führens und des Zusammenarbeitens?

Verena: Ich glaube eine sehr wichtige. Ich bin ich zwar überzeugt, dass jede Führungskraft in ihrem jeweiligen Verantwortungs- und Einflussbereich viel Kultur selbst generieren kann. Dennoch hilft es natürlich, wenn schon eine ähnliche Kultur im Unternehmen vorherrscht. Und die ist bei Axis sehr von Vertrauen geprägt und eben sehr dezentral, also viel Verantwortung in die Regionen und wenig gesteuert von der Zentrale, was natürlich sehr gut zu diesem Konstrukt passt. Dementsprechend wurden auch die Verantwortlichen für ihre Rollen ausgewählt – da legen wir sehr viel Wert drauf.

Melanie: Da hat man also schon gut drauf geschaut, dass die Personen in die Kultur reinpassen?

Verena: Der Auswahlprozess bei Axis nimmt sehr viel Zeit in Anspruch, weil man eben sicherstellen will, dass die Personen in die Kultur passen. Es ist insgesamt ein sehr vertrauensvoller Umgang und eine sehr teamorientierte Kultur.

Melanie: Lass uns mal auf das Thema Führung genauer blicken. Wie würdest du deine Art der Führung beschreiben?

Verena: Ich würde sagen: sehr kollegial. Und da ich aus der Beratung komme, eher beratend oder coachend. Denn dort war es oft so, dass meine Kunden oder Partner die Experten waren und in ihrem Gebiet viel mehr wussten als ich. Da habe ich gelernt, über Fragen und Verknüpfungen eine andere Perspektive und Gedankenanstöße anzubieten. Das ist für mich ein wichtiges Element. Und dann letztendlich diese Prozesskompetenz, das ist auch ein wichtiger Teil meines Führungsstils. Dass ich sehr transparent und klar die Rahmenbedingungen und Erwartungen vorgebe.

Melanie: Was glaubst du denn, wo die Zukunft der Führung hingeht? Und werden Teams nur noch digital zusammen arbeiten?

Verena: Ich glaube, es wird immer eine Mischung bleiben, auch mit vielen persönlichen Elementen, weil das Persönliche immer noch der Grundstein für Vertrauensarbeit ist und weil die meisten persönliche Interaktion sehr schätzen.

Melanie: Gibt es jetzt noch etwas, was du gerne mitgeben möchtest im Hinblick auf verteilte Teams und digitales Führen?

Verena: Ja, also für mich ist die Quintessenz, dass man sehr klar definieren muss: „was ist der Zweck und wo will ich mit solch einem dezentralen oder digitalen Team hin“. Und um ein echtes Team zu werden, muss man auch entsprechend Zeit investieren, dieses als Team zu entwickeln und immer wieder den Mehrwert der Zusammenarbeit aufzeigen. Damit der von den einzelnen gesehen und über die Zeit hoffentlich auch selbst eingefordert wird. Wenn das eintritt, dann wird echter Mehrwert geschaffen.

Melanie: Sehr spannende Einblicke, Dankeschön, Verena.

Verena: Sehr gerne.

Digitalisierung im Human Resources Bereich aus Unternehmer- und Beraterperspektive

Interview mit Dirk Linn, Geschäftsführer und Gründer von p-manent consulting GmbH

Dirk Linn ist Gründer und Geschäftsführer von p-manent consulting. Das Beratungshaus aus Düsseldorf ist ein erfahrener Partner für digitale Human Resources (HR) Lösungen zu eRecruiting, Talentmanagement und Learning Management, Mitarbeiterfeedback und Unternehmens-Klimaanalysen mit rexx-systems und Zest. Dirk ist einerseits Berater und Dienstleister für andere Unternehmen, andererseits hat er selbst sein Unternehmen aufgebaut und durchlebt immer wieder Transformation im eigenen Unternehmen. Im Interview mit mir spricht Dirk zum einen aus der persönlichen Perspektive eines Unternehmers und zum anderen beschreibt er, was er am Markt und bei den Kunden im Hinblick auf die Digitalisierung, insbesondere im Human Resources Bereich wahrnimmt. In seiner Freizeit widmet sich Dirk leidenschaftlich seinem Hobby, dem Flugsport.

Dirk Linn, Geschäftsführer und Gründer von p-manent consulting GmbH

Melanie: Was ist denn deine aktuelle Rolle bei p-manent consulting und welche Aufgaben beschäftigen dich derzeit?

Dirk: Das ist eine ziemliche Bandbreite. Dadurch, dass ich mehrere Rollen in unserem Unternehmen begleite, zwischen Entwicklung nach vorne, Strategie, wo geht die Firma hin und Sensor am Markt. Dann bin ich auch stark in Projekten drin. Wenn man ein Unternehmen leitet und strategisch verändern will, braucht man auch operative Kenntnis. Und in der stillen Stunde überlege ich mir, wie die Firma nach vorne getrieben werden kann.

Melanie: Was ist das, was euch bei p-manent primär beschäftigt? Ihr macht ja einiges in Richtung HR und Digitalisierung.

Dirk: HR war ja nicht bei mir in die Wiege gelegt. Ich bin in den 90er Jahren bei E-Plus als Ingenieur eingestellt worden, von dort in den Trainingsbereich und dann in HR. Das war für mich was Neues, eine andere Welt. Ich bin dann irgendwann auf den Trichter gekommen, dass es ein toller Markt ist, mit Menschen umzugehen und Dinge aufzubauen. Ich bin dann in die Software-Branche reingeschlittert und habe ein Unternehmen aufgebaut. Und da wir mit HR zu tun haben, dachte ich, eigentlich habe ich eine Kenne, ich weiß, was da passiert. Was ich einerseits gelernt habe, ist, dass man Bekanntes mit Software abbildet und versucht, nach vorne zu gehen. Und auf der anderen Seite habe ich versucht, mein Wissen auch bei mir im eigenen Unternehmen umzusetzen und das ist schiefgegangen. Diese klassische Pyramide, einen Bereich aufzubauen und Führungskräfte einzustellen. Vor vier Jahren habe ich dann komplett umgebaut auf eine mehr demokratische, mehr freiheitsliebende Struktur. Jetzt habe ich so zwei Dinge, einmal das klassische Talent Management, das das Brot und Butter Geschäft ist, mit Mitarbeitergesprächen, Zielvereinbarungen und Recruiting. Und auf der anderen Seite probiere ich im eigenen Unternehmen Sachen neu aus und gebe viele Freiheiten. Ich habe selbst keinen klassischen Recruiting Kanal, ich gehe auch über Youtube Videos und Netzwerke. Also versuche ich immer, Dinge zu reflektieren, was funktioniert. Und ich stelle eine Diskrepanz fest zwischen dem, was der Markt zurzeit noch fordert und was die Vordenker für die Zukunft im Kopf haben. Das ist ein Spannungsfeld dazwischen. Und ich versuche immer mit meinem Unternehmen der Sensor zu sein und Dinge zu probieren, die vielleicht nicht in einem klassischen Umfeld funktionieren. Dieser Spagat, das kennzeichnet uns.

Melanie: Das heißt also, Vordenkern und Vorprobieren mit dem eigenen Unternehmen, um zu schauen, was auch am Markt zukünftig greifen könnte?

Dirk: Das ist auch schwer übrigens. Ich kann das auch nicht immer komplett erklären. Ich brauche dafür Erfahrungsberichte und ein Team, das mir vertraut. Ohne Vertrauen, dass das Team sagt, ich habe eine Idee, was er denken könnte, und dass hat immer gut geklappt und die Veränderung mache ich mit. Ohne das geht es nicht. Deshalb habe ich auch einen Kompagnon mit Marcus Kretzschmar, der mehr der Analyst und immer ein Sparring Partner für mich ist. Er sagt mir: ‚Dirk, ich gebe dir Freiräume, probier’ das. Und wenn es funktioniert, folge ich dir. Aber ich bleibe erst mal in meinem Geschäft, das Bekannte, das sichere ich ab und du kannst immer einen Schritt nach vorne gehen’.

Melanie: Dann bist du, wenn ich es richtig verstanden habe, der Visionär und er der Analyst, der sagt, achte aber hier und da drauf und wenn es klappt, gehe ich auch mit.

Dirk: Ja, genau, wir haben da ein gutes Sparring. Und für das Team ist das auch wichtig, dass sie wissen, wir haben zwei verschiedene Geschäftsführer, einer der alles am Leben erhält und dafür sorgt, dass die Stabilität da ist und einer, der neue Brücken baut und dann kommt das Team nach und stabilisiert diese Brücken. Es ist ja nicht einfach, dass man sagt, ich baue das jetzt um und das funktioniert sofort. Ich habe teilweise die Hälfte der Mannschaft durch die Transformation verloren.

Melanie: Du hast ein Stichwort genannt, die eigene Transformation. Den Begriff nehme ich jetzt mal auf. Wenn du das auf eure Kunden überträgst, was stellst du da fest, wo stehen diese gerade im Hinblick auf Transformation und insbesondere digitale Transformation?

Dirk: Ich habe ja zwei Produkte am Markt. Das rexx systems Produkt, das eine tolle Lösung für das Talentmanagement im klassischen Sinne ist. Auf der anderen Seite gibt es einen Ansatz, der von unten nach oben geht. Ziele werden nicht von oben nach unten vereinbart, sondern der Mitarbeiter sagt, ich habe verstanden, wo du hinwillst. Das setzt natürlich eine Transparenz und Kommunikation voraus. Dass die Mitarbeiter wissen, wo das Alignment ist, dass sie die Richtung des Unternehmens kennen. Jetzt stelle ich fest, dass viele Führungskräfte, viele Entscheider davor Angst haben. Dass sie eher den klassischen Weg gehen wollen. Ich gebe die Ziele vor, ich kann das bewerten. Das sind ja auch monetäre Dinge dabei. Wenn ich ein Ziel vorgebe, dann muss ich auch das Geld, die Prämien in der Hand haben, mit denen ich führe. Wenn ich das umdrehe und der Mitarbeiter selbst sagt, ich brauche diese Schulung, ich brauche diese Verbesserung, das Ziel ist für mich gut, dann ist da ein riesen Commitment dahinter. Für den Mitarbeiter ist das besser. Aber das mittlere Management, das ist das „Hauptproblem“, da diese damit nicht umgehen können. Deshalb wird klassischerweise – wenn man Systeme einführt – die bisherige Methode weiterverkauft. Der Markt ist riesig und die Systeme können sich gar nicht entwickeln. Neue Systeme wie Zest, die mit dem alten Ansatz brechen, die kommen auf dem Markt gar nicht an. Weil die Kunden sagen, super Idee, aber die trauen sich nicht, da dies einen riesen Impact auf das Unternehmen hätte. Diese Transformation, die ich ja auch durchlebt habe, das Risiko will keiner eingehen. Ich glaube die Digitalisierung wird oft falsch verstanden. In vielen Bereichen ist es so: ich habe einen Prozess und eine Software und bilde diesen Prozess ab. Dann hast du verloren, da du die Digitalisierung nicht verstanden hast.

Melanie: Die Digitalisierung ist also eigentlich noch mehr. In dem Zusammenhang fällt ja häufig das Thema digitales Mindset. Was ist das für dich?

Dirk: Digitales Mindset heißt erst mal keine Angst vor der Technik zu haben. Und wie mit jedem Werkzeug, wenn du z.B. ein Schreiner bist, must du den Hobel bedienen können. Und ich glaube, heute ist es so, dass man viele Dinge nicht mehr richtig bedienen kann. Oder es gibt eine Schieflage zwischen Menschen, die affin sind und manchen, die sagen, ich habe noch zehn Jahre in meinem Job, ich brauche das nicht. Digitales Mindset bedeutet auch, dass dir das Digitale viele Dinge als Entlastung bietet, aber du musst noch überlegen, was muss persönlich sein und was kann digital passieren. Früher hatten wir einmal pro Jahr Mitarbeitergespräche. Das war Papier. Das haben wir durchgeführt und am Ende stand das Papier im Schrank. Und im nächsten Jahr hat der Mitarbeiter gefragt: ‚Liebe Führungskraft, was ist denn da gerade passiert, wir hatten doch eine Vereinbarung getroffen’. Aber dadurch, dass es nicht digital und kein Folgeprozess da war, kam nichts dabei heraus. Ich habe auch schon probiert mit Mitarbeitergesprächen zu arbeiten. Aber jetzt haben wir bei uns digitale Feedbacksysteme eingeführt. Das heißt, die Mitarbeiter haben die Möglichkeit, einmal im Monat beim Check-in mit dem Smartphone zu sagen, wie es mir geht, wie meine Wetterlage ist, wie ich mich fühle. Es gibt dazu auch eine Feedbackgarantie. Wenn mir jemand einen Check-in sendet, dann hat er innerhalb von 24 Stunden eine Antwort. Es ist wichtig, dass man die direkte Rückkopplung hat. Und jetzt kommt diese digitale Geschichte rein. Es ist ja so, dass viele Sachen so gut funktionieren und dass man vieles so regeln kann. Aber wenn ich merke, da gibt es Probleme, dann werde ich das Mitarbeitergespräch einleiten, dass man persönlich zusammenkommt. Diese Kombination zwischen dem Regelprozess, der früher rein persönlich war, und Prozessen, die rein digital sind, die beiden zu vermischen, das ist für mich digitales Mindset. Also zu überlegen, wo ist meine Wertschöpfung dabei, wann muss ich ausbrechen.

Melanie: Das fand’ ich jetzt ganz plastisch mit dem Feedback, wie ihr das macht. Gibt es noch weitere Beispiele, was kann man im HR Bereich digital machen?

Dirk: Der klassische Weg ist ja das Recruiting. Da hat sich einiges geändert. Vor allem ist die Quelle, wo die Menschen in den Prozess eintreten, schon digital. Da kann man sich als Unternehmen gar nicht mehr dagegen sperren. Wir müssen gucken, wo meine Kunden sind. Und meine Kunden im HR sind die Mitarbeiter. Und die schreiben keine Briefe mehr, die haben andere Wege. Wir haben noch viel zu viele Dinge, die digital verkopft sind wie die digitale Akte. Heute kaufen Unternehmen noch Systeme ein, die ein Papier digitalisieren als digitale Akte. Die meistens Prozesse sind bereits digital erzeugt. Da gibt es kein Papier mehr. Innerhalb einer Software wie z.B. rexx ist der Urlaubsantrag rein virtuell. Das Mitarbeitergespräch ist in der Datenbank, wenn man so will. Es gibt da kein Papier mehr. Wir leben in einer alten Welt, die versucht, ins Digitale zu kommen. Es ist wesentlich, zu schauen, wo entstehen die Daten, wer geht mit den Daten um. Und vor allem, wie nutzen meine Mitarbeiter die Daten. Wir müssen nicht schauen, was kann der Geschäftsführer mit den Zahlen anfangen, was bestimmt wichtig ist. Wir müssen gucken, wo ist die Akzeptanz in der Mannschaft, wieviel Daten bekomme ich überhaupt, über welchen Weg, mit welchem Nutzen für die Menschen, die diese erzeugen. Anstatt dass der Geschäftsführung etwas zugeliefert wird.

Melanie: Das sagst du einen ganz interessanten Punk. Da hört man ja oft von People Analytics? Ist das tatsächlich mehr etwas für die Geschäftsführungsebene, was hat der Mitarbeiter davon? Wie ist deine Haltung dazu?

Dirk: Nehmen wir mal die Trump Wahl. Im Vorfeld haben ja viele gesagt, Trump wird niemals Präsident werden. Es gab ja sogar in Kalifornien ein sehr renommiertes Institut, das gesagt hat, zu 99,x% wird Trump die Wahl verlieren. Das ist People Analytics. Inwieweit können wir diese Prädiktionsmodelle einsetzen? Jetzt kommt Trump und dreht das um. Wenn wir das da schon nicht schaffen bei so vielen Messpunkten, die wir haben. Wie wollen dann Unternehmen das haben? Dieses People Analytics Thema ist immer die Frage, welche Frage stellst du und was kriegst du dabei raus. People Analytics geht ja von Dingen aus, die passiert sind, und sagen dir auf Basis dieser Wahrscheinlichkeit, es passiert genau das. Aber wir treffen da viele falsche Entscheidungen. Guck’ mal Nokia mit den Handys falsche Entscheidung. VW mit der Dieselgeschichte. Gerade die großen Firmen haben, bevor der Absturz kam, ihr bestes Jahr gehabt. Und die haben Analytics ohne Ende. Also, was ist da passiert? Sollen wir darauf vertrauen?

Melanie: Da mag ich jetzt noch einen Schritt weitergehen. Das bringt uns in Richtung Künstliche Intelligenz. Was hältst du davon?

Dirk: Ja. Also, KI finde ich gut. Weil wir viele Dinge automatisieren können. Weil es uns bei Entscheidungen helfen kann. Amazon hat ja schon KI im Hintergrund, beim Empfehlungswesen. Das sind Dinge, die mir schon helfen. Wenn man KI einsetzt, rudimentäre Aufgaben zu erledigen wie z.B. Alexa, Siri & Co. Das ist schon eine ziemlich coole Geschichte. Ich nutze das übrigens auch. Ein Beispiel dazu. Wenn ich abends nicht einschlafen kann und habe im Kopf irgendeine Idee, dann sage ich: ‚hey Siri, Erinnerung für den nächsten Tag…’. Dann ist mein Kopf leer und die Software hat mir eine Notiz für den nächsten Tag um 9h eingestellt. Und ich schlafe gut, für mich eine Entlastung. Das sind positive Dinge. Es wird dann pervertiert in meinen Augen, wenn man dadurch manipuliert oder Dinge versteckt.

Melanie: Jetzt lass uns noch mal genauer auf HR schauen. Was könnt ihr da alles digital abdecken? Du hast jetzt schon erwähnt: Recruiting, Zielvereinbarung, Feedbackgespräche. Was gibt es noch für Päckchen, die ihr digital abbilden könnt?

Dirk: Was heute ein Hype ist, ist das ganze Preboarding. Du hast einen Bewerber gefunden und er hat noch sechs, acht Wochen, bis er anfangen kann wegen Sperrfristen oder Übergangszeiten. Jetzt können wir ihn schon digital einbinden. Das kann rexx zum Beispiel. Du bekommst schon Zugang zu bestimmten Bereichen. Du kannst dich zum Essen verabreden. Du kannst E-Learning durchführen. So bindest du die Leute schon an das Unternehmen. Weil er das Gefühl hat, ich arbeite dort schon.

Melanie: Jetzt hast du auch E-Learning genannt. Inwiefern digitalisiert ihr den Learning Bereich?

Dirk: Beim Lernen ist es die klassische Geschichte, Seminarkatalog. Es dreht sich jetzt ein bisschen um, bedarfsorientiert, dass der Mitarbeiter sich selbst artikuliert: ‚Um den Job zu machen, brauche ich folgende Unterstützung’. Das muss kein Seminar sein, das kann ein Buch, ein Online-Kurs oder ein Coach sein. Also dass man einen anderen Weg geht und nicht mehr die klassische Gießkanne ausrollt. Bei uns ist es so, dass wir versuchen, das ganze Thema auf einem Skillbaum aufzubauen. Was brauchst du, um deinen Job zu machen? Bedarfsorientiert und aufgabenorientiert. Das ist ein Change. Wir bauen es auf den Mitarbeiter um. Der Mitarbeiter kann z.B. sagen: ‚Mein Aufgabenbereich hat sich verändert, das Skill brauche ich, das Skill ist weggefallen’. Ich pflege quasi Stellenprofile aus Quellensicht und nicht mehr wie früher aus HR, weil da ein Audit kam.

Melanie: Geht es auch bis zum Ausscheiden eines Mitarbeiters?

Dirk: Ja. Unser einfachster Fall ist klassisch das Exit-Interview. Warum verlässt ein Mensch das Unternehmen? Angenommen jemand kündigt, dann brauchst du irgendeine Art Vorschlagswesen, welche Mitarbeiter sind schon inwieweit qualifiziert. So eine Art Karrierepfad, dass jemand entwickelt werden kann. Das ist ja einmal verbunden mit einer internen Bewegung und einer Bewegung nach außen für den Mitarbeiter, der das Unternehmen verlässt.

Melanie: Ich habe jetzt eine ganz gute Idee, was mit so einem Personalsystem möglich ist. Jetzt müssen wir noch ein bisschen darüber hinaus gucken. Was macht ihr um so eine Systemeinführung zu begleiten? Damit ein Unternehmen das auch am Ende lebt.

Dirk: Für mich ist immer wichtig, alle Player von Beginn an dabei zu haben. Also alle Beteiligten, die einen direkten Impact haben. Die Bereitschaft zur Veränderung, die müssen wir mitgeben: ‚Ihr habt jetzt die Chance, Dinge, die euch schon immer gestört haben, auf den Tisch zu packen. Vielleicht gibt es da in der digitalen Welt neue Möglichkeiten’. Es geht am Anfang mit einem Kick-off los und dann machen wir Basistrainings. Wir versuchen immer, dass der Kunde sehr viel selbst erarbeiten kann. Um später die Beraterleistung nicht einkaufen zu müssen. Dass er also Rechte einstellen kann, Masken verändern kann, Reports erzeugen kann. Das ist wichtig, dann hat man auch ein Vertrauen. Danach kommen weitere Schulungen, dann gibt einen Review, den der Kunde vorbereitet hat: macht das Sinn, kann rexx das so abbilden oder wenn nein, welche Alternativen gibt es. Und ganz am Ende sagen wir: ‚Haben wir unser Ziel aus dem Kick-off erreicht? Ja oder nein?’. Und dann gibt es eine Abnahme und dann geht es in den Regelbetrieb rüber.

Melanie: Jetzt möchte ich noch etwas übergreifender gucken. Was würdest du denn sagen, was man tun muss, um die Menschen bei dieser digitalen Reise mitzunehmen?

Dirk: Eine einfache Lösung in meinen Augen: Vertrauen schenken. Einfach sagen: ‚Du machst das schon richtig’. Wenn du ein neues System einführst und sehr nah beim Kunden bist, bei dem Mitarbeiter selbst, dann diesen Workflow ganz kurz zu halten, sofort zwischen der Ursache und der Wirkung ein Feedback zu bekommen. Hör’ auf den Mitarbeiter. Gib’ dem viel Vertrauen, verkürze die Entscheidungswege. Und gib’ mehr Feedback.

Melanie: Was glaubst du, wo es perspektivisch hingehen wird? Wo geht das Thema Digitalisierung hin, speziell in eurem Bereich?

Dirk: Ich glaube insgesamt, der Arbeitsmarkt wird sich verändern. Wir überaltern. Die Menschen werden wahrscheinlich nicht nur einen Job sondern mehrere Jobs haben. Also die Frage ist, so ein Personalsystem der Zukunft ist das wirklich nur unternehmensplatziert oder ist es eher so ein Linkedin oder Xing. Eher wie ein Bankkonto, das man verwaltet. Warum soll ich nicht meine Personalakte in ein bestimmtes Umfeld geben und alle bedienen sich an diesem Konto. Dass meine Weiterbildung dort gepflegt ist, und wenn ich mehrere Arbeitgeber habe, können auch die Schichtpläne dort miteinander abgestimmt werden. Es kann meine Qualifikation geteilt werden. Also, ganz anders. Wir müssen auch anders kooperieren. Ich glaube dieses Mindset, wenn der andere etwas besser macht, dann brauche ich keine Abwehrhaltung, sondern ich muss fragen, was mach ich nicht so gut. Und dann kann man fragen, was hast du gemacht. Und wenn der kooperiert, dann gibt er dir auch die Antwort.

Melanie: Was gibt es noch zum Schluss? Was möchtest du als Botschaft mitgeben?

Dirk: Jeder sollte ein bisschen mutiger sein als er heute ist. Die Schranken sind bei uns im Kopf. Aus dem Komfortbereich in die unbekannte Zone aufbrechen. Das wichtige dabei ist, ich brauche Feedback. Wir müssen lernen, Menschen zu bestärken, und nicht nur das Negative zu sehen. Heute in der Presse haben wir immer die schlechten Nachrichten. Wenn jemand scheitert, dann sagt man: ‚Guck’ mal, der ist gescheitert, gut, dass ich es nicht gemacht habe’. Ich würde lieber den Gedanken haben, aber er hat es versucht. Er hat viel gelernt dabei. Und was er jetzt an Wissen bekommen hat, das ist mit keinem Hochschulwissen bezahlbar und er weiß, so geht es nicht. Wir müssen lernen, ja, zum Scheitern zu sagen. Lernen ist einfach scheitern. Wir müssen darin bestärken, Menschen wieder zu fördern. Und jeder Mitarbeiter, wo man sagt, der muss raus, der passt nicht in die Firma, da ist die Frage, habe ich in meiner Firma eigentlich das gemacht, was meinem Mitarbeiter entspricht. Habe ich ihm die Möglichkeit gegeben, auch zu verändern. Diese Durchlässigkeit habe ich oft gar nicht. Wir haben einmal unser Mindset im Kopf, wir haben unsere Gesetzgebung, wir haben eine geänderte Gesellschaft, wir haben andere Unternehmen wir haben einen anderen Markt. Das zusammen zu bekommen, geht nur, wenn wir gemeinsam wollen. Und mal sagen, ich mach mal Dinge, die vielleicht nicht ganz so common sense sind, aber ich probiere was. Das ist meine Bitte, vielleicht ein bisschen offener zu sein.

Melanie: Ich danke dir für das spannende Gespräch!

Dirk: Gerne, hat Spaß gemacht.

Mittelstand-Digital Kongress 2019 – „Vertrauen & Neugier“ im Futurium Berlin

Der Mittelstand-Digital Kongress 2019 fand im Futurium, dem Haus der Zukünfte, in Berlin statt. In diesem Haus dreht sich alles um die Frage, wie wollen wir leben. Eine Frage, die sich auch sehr gut auf die Digitalisierung beziehen lässt. Das Motto des Digitalkongresses war „Vertrauen & Neugier“ und verfolgte das Ziel, den Menschen in den Mittelpunkt der Digitalisierung zu stellen.

Der Mittelstand ist der Wirtschaftsmotor Deutschlands. 3,5 Millionen Unternehmen sind KMUs, das sind 99,5 % aller Unternehmen in Deutschland. Damit der Mittelstand seine Innovationskraft behält, ist es mehr als wichtig, dass dieser die Digitalisierung nicht verschläft. Eine zentrale Aussage zu Beginn des Kongresses war, dass sich der Mittelstand zwar digitalisiert, aber immer noch zu zögerlich. Das Tempo reicht nicht aus. Deshalb gibt es Förderprogramme wie „go digital“, das sich gezielt an kleine und mittlere Unternehmen und an das Handwerk richtet. Das Programm bietet Beratungsleistungen, um mit den technologischen und gesellschaftlichen Entwicklungen im Bereich Online-Handel, Digitalisierung der Geschäftsprozesse und dem steigenden Sicherheitsbedarf bei der digitalen Vernetzung mithalten zu können. Dahinter steht Mittelstand Digital, der bundesweit 26 Kompetenzzentren hat, die kleine und mittelständische Unternehmen bei der digitalen Transformation in Bereichen wie Kommunikation, eStandards, Handwerk, Planen & Bauen, IT, Handel und Textil unterstützen. Das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie ermöglicht die kostenfreie Nutzung aller Angebote von Mittelstand-Digital.

Der Kongress beleuchtete in verschiedenen Beiträgen menschliche Eigenschaften, die in Zeiten der Digitalisierung benötigt werden. Dazu gehören Eigenschaften wie vertrauensvoll und neugierig, zuversichtlich und kreativ, kommunikativ und mutig, visionär und experimentierfreudig.

In verschiedenen Praxisbeispielen wurde die Umsetzung der Digitalisierung gezeigt, wie beispielsweise anhand des Bon Prix Future Stores und der fränkischen Eisengießerei Düker, die der Erfassung von Qualitätsdaten über Papier und Excel ein Ende bereitet und ein einheitliches System basierend auf eStandards eingeführt hat. Der Vortrag von Rohitashwa Pant, dem Senior Vice President Indutrie 4.0 der Kuka AG, zeigte, die intelligente Zukunft findet statt. Kuka ist ein weltweit führender Anbieter von Robotik und Pionier in der Industrie 4.0. Christian Mio Loclair, der Creative Director von Waltz Binaire, dem Kreativstudio für maschinelle Kreativität unter dem Einsatz von KI sagte deutlich, die Digitalisierung sei „nur“ ein Aufwärmen für den nächsten Schritt, die Künstliche Intelligenz.

Der Kongress konnte zeigen, ja, es passiert etwas zum Thema Digitalisierung im Mittelstand. Wir können jedoch alle noch experimentierfreudiger werden und mehr in Iterationen ausprobieren und sukzessiv anpassen als alles polieren und perfekt haben zu wollen. Für den nächsten Kongress würde ich mir wünschen, den Menschen tatsächlich noch mehr in den Fokus zu stellen und das mit mehr Interaktion und kreativem Ausprobieren. Denn schließlich sind es die Menschen, deren Mitwirken wir brauchen, damit die Umsetzung der Digitalisierung erfolgreich und nachhaltig sein kann. So sollten wir neugierig und mutig den Weg der Digitalisierung beschreiten, ganz nach dem Motto von Galileo „Die Neugier steht immer an erster Stelle des Problems, das gelöst werden will“.

Gesundheit in digitalen Zeiten

Interview mit Ben Lenk-Ostendorf, Leiter Forschung & Entwicklung bei MEDISinn und Digital Native

Ben habe ich während meiner Zeit als Hochschuldozentin in einem meiner Seminare kennen gelernt. Schon als Student ist er mir mit seinen ganz eigenen und innovativen Ideen aufgefallen. So war es mir eine Freude, ihn in seinem beruflichen Kontext bei MEDISinn*, einem Gesundheitsdienstleister mit ganzheitlichem Ansatz, wieder zu treffen und ihn als Digital Native zum Thema Gesundheit in digitalen Zeiten zu interviewen. Bens Interessen liegen vor allem in den Bereichen Psychologie und IT. Bei MEDISinn ist er Leiter Forschung & Entwicklung. Hier kümmert er sich um die technologischen Neuentwicklungen mit dem Ziel, die Gesundheit von Arbeitnehmern zu verbessern. Gleichzeitig schreibt er an seiner Doktorarbeit zum Thema Gamification und Klimawandel. Hierbei initiiert er ein Projekt namens CO2-Hero, das es ermöglichen soll, spielerisch weniger CO2 als Privatperson auszustoßen. Hier nun das Interview mit Ben:

Ben Lenk-Ostendorf, Leiter Forschung & Entwicklung bei MEDISinn

Melanie: Was ist denn deine aktuelle Rolle bei MEDISinn?

Ben: Ich bin Leiter Forschung & Entwicklung, dabei sind meine Hauptaufgabenbereiche IT-Projekte und der Human Ressource Bereich.

Melanie: Welche Intention verfolgt MEDISinn?

Ben: MEDISinn hat das große Ziel, Menschen zu befähigen, erstens ihre Gesundheit zu verstehen und zweitens ihre Gesundheit zu verbessern. Wir haben erlebt, dass Menschen, wenn Sie sich nicht so gut fühlen, oft nicht wissen, wo es herkommt. Denn Gesundheit ist für viele sehr abstrakt. Und wir versuchen eine Gegendenke zum Thema Krankheit zu fördern, das heißt, den Blick auf den Erhalt und die Prävention von Gesundheit zu lenken. Das bringen wir in Unternehmen ein, da wir dort viele Menschen erreichen können. Wir haben z.B. Partner wie Amazon und die Allianz, wo wir exemplarisch Gesundheitstage für die Mitarbeiter durchführen.

Melanie: Wie sieht die Arbeit von MEDISinn aus?

Ben: Unser Hauptprodukt ist die psychische Gefährdungsbeurteilung. Das ist ja eine gesetzliche Pflicht, Unternehmen müssen das machen. Wir gehen zu dem Thema in die Organisationen rein und schauen, was sind denn die Knackpunkte im Unternehmen. Was gibt es hier für Themen, die zu bearbeiten sind. Psychische Gefährdung und Krankheiten sind in der Regel teuer für Unternehmen. Gesundheit dagegen bringt richtig was. Wir treten an die Unternehmen heran und fragen, hättet ihr Interesse, euer Unternehmen in der Hinsicht voran zu bringen. Es gibt Firmen, die sagen, Gesundheit macht jeder für sich. Und dann gibt es andere, die sagen, Gesundheit ist uns wichtig und was uns ein Krankheitstag kostet oder wenn jemand länger ausfällt z.B. bei Depressionen oder Rückenproblemen, das sind dann die richtigen Kosten und das wollen wir nicht. Solche Unternehmen machen mit und sie haben ein echtes Interesse daran, dass es den Mitarbeitern gut geht.

Melanie: Welche Bandbreite an Kunden habt ihr? Sind das Großunternehmen oder mittelständische Unternehmen?

Ben: Wir haben auch große Unternehmen, unser Hauptfokus liegt aber auf dem Mittelstand. Der Mittelstand ist da richtig spannend. Zum Teil sind das auch junge Unternehmen, die z.B. sagen, wir wollen da etwas Digitales umsetzen.

Melanie: Was genau bietet ihr dem Kunden für Produkte, Tools und Systeme an?

Ben: Wir gehen in der Regel über einen Fragebogen zur psychischen Gesundheitsgefährdung ins Unternehmen rein. Danach geht es darum, Verbesserungen anzustoßen. Wir haben eine anonyme Hotline, die der Mitarbeiter bei Fragen anrufen kann. Wir bieten zudem Workshops und Coachings an. Dabei versteifen wir uns nicht auf ein Thema. Wir können dank unseres Netzwerks jedes Thema angehen, was uns bei der Situationsanalyse auffällt. Ein anderer Weg ist der, dass wir dem Unternehmen ein bestimmtes Kontingent anbieten und die Mitarbeiter haben dann selbst die Möglichkeit, sich daraus zu bedienen. So können wir die Mitarbeiter versorgen, wie sie es jeweils brauchen. Beispielsweise möchten manche Mitarbeiter mehr Sport machen oder andere möchten eine psychologische Onlineberatung wahrnehmen. Was es auch ist, wir haben es in unserem Portfolio und können es individuell auf die Bedürfnisse des Mitarbeiters anpassen.

Melanie: Welche Berufsgruppen sprecht ihr vor allem an?

Ben: Vor allem die öffentliche Verwaltung und alle sozialen Berufe, insbesondere Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen haben meistens einen hohen Bedarf. Gerade mit dem Präventionsgesetz im Pflegebereich ist da einiges zu tun, unterstützt vom Gesetzgeber. Ein Beispiel ist ein Projekt zusammen mit der AOK zur Frage, wie bekommen wir es hin, dass die Pflegekräfte auch Pausen in ihren Alltag einbauen. Mit meiner Doktormutter habe ich dazu eine App entwickelt. Die heißt „Mach’ mal Pause“. Das ist eine Kooperation zwischen MEDISinn und der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg. Das Ganze wird damit auch wissenschaftlich begleitet und evaluiert. Die Ergebnisse der Forschung haben wir dann in der App verarbeitet.

Melanie: Was bedeutet denn für dich Digitalisierung?

Ben: Ich bin ja tatsächlich ein Digital Native und bin es gewohnt, immer digital Feedback zu bekommen. Das ist auch der Grund, warum ich mich in meiner Doktorarbeit mit dem Thema Gamification beschäftige. Digitalisierung heißt nicht nur, dass ich das, was ich vorher analog gemacht habe, jetzt digitalisiert mache. Digitalisierung heißt für mich das Nutzen von Interaktivität und Feedback. Darin steckt für mich die große Chance der Digitalisierung. Dass der Nutzer z.B. belohnt wird, wenn er das braucht, dass er explorieren und erkunden kann. Das heißt auch auf das Thema Gesundheit bezogen, ich fülle nicht nur einen Fragebogen aus. Wir versuchen da ein human-centered design zu entwickeln. Das ist ein Ansatz, der interaktive Systeme so entwickelt, dass auf die Bedürfnisse und Anforderungen der Anwender eingegangen wird und menschliche Perspektiven in den Problemlösungsprozess einbezogen werden. Wir leiten den Nutzer also so durch unser System, dass es im besten Fall Spaß macht und sich gut bei der Benutzung anfühlt.

Melanie: Da möchte ich auf einen Punkt kommen und zwar das Thema „Gesundheit digitalisieren“, wie kann man das machen? Wie kann man hier die Digitalisierung zum Vorteil nutzen?

Ben: Das große Problem beim Thema Gesundheit ist der große Wissensunterschied. Und dieses Wissen haben wir. Nehmen wir z.B. einen Automechaniker, der seinen Job immer sehr gut macht, aber seit geraumer Zeit geht es ihm nicht mehr gut und womöglich leidet er an einem Burn-out bzw. einer Depression. Dann weiß die Person in der Regel nicht, dass sie erstens krank sein könnte und es zweitens eine Telefon-Hotline gibt, die er anrufen kann, um einen Termin bei einem Psychotherapeuten zu bekommen. Und er weiß nicht, welche Präventionsprogramme es gibt. Und diesen Wissensunterschied können wir mit der Digitalisierung überbrücken. Vom ersten Verdachtsmoment, über Prävention, Therapievermittlung und -begleitung bis zur Nachsorge.

Melanie: Wie kann ich mir das jetzt konkret für diese Person vorstellen? Wie kommt sie an diese Informationen heran?

Ben: Unser Ablauf ist so, wir gehen mit dem Fragebogen zur psychischen Gesundheitsgefährdung rein. Die Person füllt zunächst den Fragebogen aus und dann bieten wir noch weitere Informationen zum Thema Gesundheit sowie die Möglichkeit, die eigenen Ergebnisse mit Menschen aus der gleichen Branche zu vergleichen. Dies kann er alles über eine Website auf seinem Computer oder auf seinem Handy machen. Und dann stellt eine Person mittels des Fragebogens z.B. fest, ich schlafe schon seit einer ganzen Weile nicht mehr gut, Rückenbeschwerden habe ich auch und Energie habe ich morgens auch nicht mehr so richtig. Da machen wir die Person dann aufmerksam und sagen, schau’ mal, deine Depressivitätswerte sind schon recht überdurchschnittlich. So jetzt kommt der kritische Punkt. Da wäre es fatal, wenn wir hier aufhören würden. Dann sagen wir, wir haben folgende Vorschläge für dich bzw. das Programm zeigt dies entsprechend an. Das kann beispielsweise die Empfehlung sein, suche einen Arzt auf. Und es gibt auch Verknüpfungen zu anderen Apps. Und darüber hinaus als wichtige Komponente gibt es die Möglichkeit, einen Menschen zum akuten Thema zu kontaktieren. Denn digitale Tools und Social Media sind hier kein Ersatz. Apps können z.B. darauf aufmerksam machen, wie es um die persönlichen sozialen Beziehungen steht und dass es hier vielleicht etwas zu tun gibt. Wir möchten bei dem Thema Gesundheit so früh wie möglich ansetzen.

Melanie: Jetzt gibt es ja bereits den Einsatz von Chatbots in der Therapie. Wäre das auch für euch eine Option? Erste Forschungsergebnisse zeigen, das ist gar nicht so schlecht, was dabei herauskommt.

Ben: Ja, es gibt eine große Metastudie zu computerbasierter Depressionstherapie. Eine sehr spannende Studie. Die Hauptergebnisse zeigen: ohne Unterstützung des computerbasierten Ansatzes waren die Ergebnisse so mittelmäßig, mit administrativen Support zur App waren die Ergebnisse schon besser und mit psychotherapeutischer Begleitung waren die Werte geringfügig, aber noch höher. Wenn man diesen administrativen Unterbau schaffen könnte, z.B. mit einem Chatbot und wenn es nicht weitergeht, kommt ein Mensch zum Zug, klar, das wäre schon eine ziemlich gute Sache. Aber da müssen wir noch schauen, inwieweit das wirklich bei Depressionen in der Behandlung greift. Da dies doch sehr individuell ausfallen kann. Am Ende könnten es sinnvolle Verknüpfungen von Mensch und Maschine sein.

Melanie: Was möchtest du aus deiner bisherigen Erfahrung heraus den Menschen zum Thema psychische Gesundheit gerne mitgeben?

Ben: Was ich für mich persönlich herausgefunden habe, wie ich meine Lebenszufriedenheit steigern kann, ist Dankbarkeit. Das heißt Dankbarkeit trainieren. Einmal bis zweimal pro Woche aufschreiben, wofür ich dankbar bin. Denn wenn etwas Negatives passiert, nimmt das meistens Überhand. Dann brauche ich mindestens drei positive Dinge, damit sich das wieder ausgleicht. So ist die Rechnung. Das heißt, wir sollten häufiger mal an etwas Positives denken. Wir sind einer der reichsten Industrienationen und wir sind an einem Punkt in der Geschichte, wo es uns noch nie so gut ging. Alles in allem haben wir den höchsten Lebensstandard der Welt. Dankbarkeit ist einer der Grundpfeiler würde ich sagen. Meditation finde ich zudem sehr bereichernd. Das ist sicherlich auch Typ abhängig. Und darauf hören, was die Freunde so sagen und ob die sehen, ich glaube, dir geht es gerade nicht so gut. Ich habe die Erfahrung gemacht, die merken das schneller als man selber. Darum viel Wert auf soziale Kontakte legen.

Melanie: Spannend, dass du das so sagst als Digital Native!

Ben: Ja, wenn ich mein Handy mal zuhause liegen lasse, gerade, wenn ich mit Freunden zusammen bin, dann ist das richtig entspannend.

Melanie: Was wird deiner Meinung nach in der nächsten Generation relevant sein?

Ben: Da wird sich wahrscheinlich niemand mehr dafür interessieren, was du in deiner Arbeit geleistet hast. Ich hoffe, dass meine Kinder sich dafür interessieren werden, was meine Moral- und Wertevorstellungen waren und was ich für Ideen in meinem Leben hatte. Ich fänd’ es selbst wichtig, dass meine Ideen dableiben und was ich für ein Mensch war. Ich bin lieber mit mir im Reinen als Mensch als damit, was ich verdient habe oder ob ich berühmt war. Ich glaube, die nächste Generation wird sich sagen, wir haben jetzt den Karren in den Dreck gefahren und was jetzt. Ich glaube auch, dass wir den Klimawandel vielleicht noch so hinbekommen. Und es wird möglicherweise auch ungemütlich. Vielleicht bekommt die nächste Generation auch den großen Schlag der Rezession ab. Und sie werden sagen, wir müssen jetzt umdenken. Und ich hoffe, dass ich da ein bisschen Vorbild sein kann. Denn wir brauchen alle nicht das neue I-Phone, wir brauchen zu essen und zu trinken. Und wir sollten nicht 48 Stunden arbeiten und uns dann wundern, dass wir einen Burn-out bekommen.

Melanie: Jetzt hast du schon einiges gesagt auf den Menschen bezogen. Was würdest du denn noch den Organisationen sagen wollen?

Ben: Ich glaube, dass es einen human-based Führungsstil geben sollte. Ich habe da Menschen vor mir sitzen, die sind keine Arbeitsmaschinen. Die haben ihre Bedürfnisse, die haben ihre Ziele. Und ich muss als Arbeitgeber schauen, dass ich ihnen Ziele mitgebe, auf die meine Mitarbeiter Lust haben. Und dass sie die Freiheiten haben, mitzugestalten und die Organisationen stehen hinter den Mitarbeitern und sagen, ich helfe dir dabei. Es geht dabei auch um eine vertrauensvolle Arbeitsbeziehung. Ich sehe es auch nicht als Vertrauensvorschuss, sondern das ist eine Voraussetzung. Ansonsten können wir nicht zusammenarbeiten. Und wenn mein Vertrauen als Arbeitgeber oder Führungskraft enttäuscht wird, dann arbeiten wir daran. Denn wir sind alle Menschen und machen mal Fehler. Und das stärkt einen im besten Fall auch.

Melanie: Jetzt möchte ich noch auf einen Punkt kommen, da das sicherlich auch zu euch als Unternehmen passt. Was ist denn für dich gesunde Führung?

Ben: Gesunde Führung ist human-based, da ist ein Mensch, der hat Bedürfnisse. Und da gibt es mehrere Komponenten. Als erstes muss man schauen, ist der Job das Richtige für die Person. Und dann muss ich fragen, wie geht es den Menschen, die aktuell für mich arbeiten. Ich sollte mich auch persönlich interessieren, dann bekomme ich das auch zurück. Das setzt wie bereits gesagt Vertrauen als Basis voraus. Bei allem sollte auch adäquat belohnt werden und das insbesondere auf persönlicher Ebene, mit Anerkennung und dem Gefühl, an etwas Großem zu arbeiten.

Melanie: Was möchtest du jetzt zum Schluss noch als Botschaft mitgeben? Mich interessiert da vor allem die menschliche Komponente und die auf die Gesellschaft bezogen.

Ben: Ich habe das Gefühl, dass die Generation, die mit mir und die nach mir kommt, einen großen Umbruch im Denken hat. Ich hoffe, dass wir es irgendwie hinbekommen, dass wir nicht für wenige Leute arbeiten, die eine unvorstellbare Menge an Geld anhäufen. Sondern ich hoffe, dass die Generation, also meine und die nächste, dafür sorgen, dass wir es irgendwie hinbekommen, sinnvoll zu wirtschaften. So dass wir nicht soviel arbeiten, wir trotzdem alles haben, was wir brauchen und uns darauf besinnen, was uns als Menschen guttut. Ich denke, wenn wir diesen Wandel irgendwie hinbekommen, können wir als Menschen quasi glücklich werden. Dann haben wir unglaublich viel erreicht. Dann lösen sich auch Probleme wie Klimawandel und psychische Erkrankungen lassen sich besser abfangen. Wenn ich nicht auf ein Leistungstier reduziert werde, sondern als Mensch gesehen werde. Das fände ich schön, wenn das zustande kommt und dafür arbeite ich gerne mit.

Melanie: Vielen Dank für diese spannenden Einblicke!

Ben: Sehr gerne!

* MEDISinn bietet mit ihrer Gesundheitsplattform Lösungen für die physische und psychische Gesundheit der Mitarbeiter von Unternehmen und Organisationen. Zudem hat sie ein Netzwerk von Gesundheitsberatern und Coaches, um die menschliche Komponente und Begleitung sicher zu stellen.

Digitale Transformation in Organisationen

Interview mit Dr. Michael Müller-Wünsch, OTTO-Bereichsvorstand Technology – CIO

Dr. Michael Müller-Wünsch ist seit dem 1. August 2015 OTTO-Bereichsvorstand Technology – CIO. MüWü, wie er von den Menschen in seinem Umfeld auch gerne genannt wird, habe ich während eines Transformationsprojektes bei der OTTO IT persönlich kennen gelernt. Schon damals war ich von seinen innovativen Business-Ideen und seinem gleichzeitig wertschätzenden Umgang mit den Menschen inspiriert. So lag es nahe, MüWü zu fragen, ob er für ein Interview zum Thema digitale Transformation und den Auswirkungen der Digitalisierung und Künstlichen Intelligenz (KI) auf den Menschen zur Verfügung stehen würde. Hier nun das Interview.

Dr. Michael Müller-Wünsch, OTTO-Bereichsvorstand Technology – CIO

MH: Wie würdest du deine aktuelle Rolle und deine derzeitigen Aufgaben, mit denen du dich in deiner Funktion beschäftigst, beschreiben?

MüWü: Vielleicht mache ich erst mal eine formale Beschreibung. Ich bin Vorstandsmitglied, Bereichsvorstand Technologie und habe als CIO die fachliche Verantwortung für das Thema Technologie. Das ist aber viel zu kurz gegriffen. Wir sehen Technologie ja nicht als Selbstzweck, sondern wollen Mehrwert erschaffen und Möglichkeiten kreieren. Insofern ist es vielmehr eine gesamtunternehmerische Aufgabe mit Technologie-Schwerpunkt, als dass ich mich um einen Computer, eine Anwendung oder ein Team kümmere, was dann schnell im Mikromanagement enden würde.

MH: Wie ist deine Historie, wann hat für dich die Reise der Digitalisierung und der künstlichen Intelligenz begonnen?

MüWü: Ich habe mein Berufsleben als Diplom-Informatiker an der TU Berlin begonnen und dazu parallel Betriebswirtschaft studiert. Anschließend habe ich ungefähr 15 Jahre in der KI geforscht. In meiner Doktorarbeit ging es darum, wie Strategieprozesse mit KI unterstützt werden können – das im Jahr 1985. Das war und ist ein komplexes Anwendungsgebiet. Persönlich war ich immer beseelt, bedingt durch meinen Ausbildungswerdegang, zu überlegen, wie Technologie im Geschäft wirken kann. Seitdem habe ich nicht losgelassen, zu hinterfragen, was Technologie für die Kunden* im B2B- und B2C-Bereich, aber auch für die Mitarbeiter* bedeuten kann. Dementsprechend ist meine Digitalisierungsreise schon seit einigen Jahrzehnten ongoing und je nachdem, wie alt ich werde, wird es mich noch eine ganze Weile begleiten.

MH: Was glaubst du denn, wie sich die Entwicklungen in der Digitalisierung und der Künstlichen Intelligenz auf die Wirtschaft und die Gesellschaft auswirken werden?

MüWü: Ich würde mal eine Wette eingehen, dass im Jahr 2025 mindestens 30% aller großen Softwaresysteme KI-Komponenten haben werden. Software ist ja dadurch geprägt, dass sie versucht, einen prozeduralen Weg, der immer gleichförmig ist, einfach schneller zu machen als wir Menschen es manuell oder kognitiv abwickeln können. Ich glaube, dass KI, diesen Prozess einzelne Aufgaben zu ersetzen, ganz stark prägen wird. Beispielsweise im medizinischen Bereich oder in Bereichen, in denen es um Entscheidungs- und Bewertungsaufgaben geht. Da wird das Thema KI eine starke Rolle spielen. Und die Frage ist, wie wir als Menschen damit umgehen, wenn wir zum Beispiel an unserem Handgelenk eine Uhr tragen, die uns bei gesundheitlichen Problemen helfen kann, die richtigen Medikamente zu nehmen. Die uns zudem helfen kann, mit Menschen leichter Dialoge zu führen, indem eine automatische Übersetzung von Chinesisch auf Englisch oder von Portugiesisch auf Deutsch stattfindet. Das wird durch das Thema Technologie möglich werden und die Frage ist, wie offen nehmen wir das auf.

MH: Dann möchte ich jetzt gerne zu OTTO übergehen. Was bewegt euch zu den Themen Digitalisierung und KI und was möchtet ihr noch vorantreiben?

MüWü: Ich muss eines sagen, in dem Wettbewerbsumfeld, in dem wir uns bewegen mit den anderen Digitalgiganten, sind wir stolz, dass wir in diesem Jahr unseren 70. Geburtstag feiern. In einem Wettbewerbsumfeld, das in den letzten Jahren immer intensiver geworden ist, behalten wir als bedeutendes mittelständisches, europäisches Unternehmen Relevanz. Als Marke OTTO wollen wir diesen Wachstumsweg, den wir eingeschlagen haben – immerhin sind wir jetzt schon neun Jahre fast zweistellig profitabel wachsend – weiter fortführen und ausbauen. Wir wollen als Plattformanbieter relevant bleiben und diese Relevanz in einer Koexistenz mit anderen Unternehmen noch weiter ausbauen, in dem wir uns auf unsere Stärken fokussieren und beispielsweise unsere Stellung als Deutschlands größter Onlineshop für Home & Living weiterausbauen. Ich bin nicht davon überzeugt, dass wir als europäisches Unternehmen siegen müssen. Es ist kein Kämpfen gegen jemanden, sondern eine bedeutende Position zu behalten im Miteinander, weil wir andere Kundenprobleme in den Mittelpunkt stellen und lösen, als unsere Mitstreiter.

MH: Kooperation spielt hier also eine zentrale Rolle?

MüWÜ: Ja, absolut. Alexander Birken (Vorstandsvorsitzender der Otto Group) hat ja beim Start als CEO ganz deutlich gesagt, dass wir uns in alle Richtungen öffnen werden. Und wir als OTTO machen das, in dem wir uns die Perspektiven offenhalten, die für Konsumenten* und für unsere Partner gut sind. Das fußt darauf, dass unsere Mitarbeiter, sich im richtigen Unternehmen fühlen und die Kraft und das Interesse haben, ihre Energie und ihr Wissen einzusetzen, um die Stakeholder-Communities von Konsumenten, Lieferanten und Partnern bestmöglich zu bedienen.

MH: Wenn man jetzt noch einen Schritt weiter blickt, wie würdest du denn die Mensch-Maschine-Interaktion in diesem Kontext bewerten? Was hast du da für eine Perspektive?

MüWü: Ich glaube, dass wir heute eine sehr verkürzte und zu vereinfachte Diskussion führen, weil es immer um ein „Entweder-Oder“ geht. Ich spreche lieber von „blending work processes“. Das heißt, wir werden uns überlegen, wie wir Technologie einsetzen, um Arbeit für Menschen leichter zu machen und auch um zu besseren Arbeitsergebnissen zu kommen. Sehr häufig wird gesagt, dass Technologie Arbeitsplätze vernichten wird. Tatsache ist aber, dass dies in den allermeisten Fällen nicht einen ganzen Arbeitsplatz betrifft, sondern dass bestimmte Teilprozesse durch Technologie ergänzt und unterstützt, aber auch manchmal substituiert werden. Dass ein ganzer Arbeitsplatz durch Technologie komplett ersetzt wird, sehe ich kurzfristig nicht. Das ist für mich eine verkürzte Diskussion. Deshalb ermuntere ich als Technologe Menschen, die solche Sorgen haben, sich zu informieren und zu qualifizieren, um sich die Chancen, die in der Nutzung von Technologie stecken, zu erschließen.

MH: Jetzt bist du ja schon eine ganze Weile mit der digitalen Transformation bei OTTO beschäftigt. Was würdest du sagen, wo steht ihr da und was habt ihr schon geschafft? Und was liegt noch vor euch?

MüWü: Was wir nachweislich geschafft haben – das dokumentiert auch das Konsumentenverhalten – ist, eine Geschäftsidee zu entwickeln, die seit über 70 Jahren erfolgreich ist. Eine Besonderheit dabei ist, dass wir unsere Kunden nie physisch gesehen haben. Wir haben seit unserer Geburtsstunde immer über Distanz anhand von Daten versucht, eine perfekte Customer Journey zu produzieren. Die Kunden haben das Endprodukt des Ganzen, nämlich den Katalog als Bestellquelle, inzwischen gegen unsere digitalen Kanäle eingetauscht. Inzwischen erfolgen über 55 Prozent aller Käufe auf otto.de über Smartphones und Tablets. Insofern haben wir die erste Etappe, die wir vom Markt zurückgespielt bekommen haben, „Tausche Papier gegen digitale Interaktion“ gemeistert. Wir sind immer noch sehr erfolgreich auf diesem Weg unterwegs, bedienen Millionen von Kunden mit einem Sortiment von drei Millionen Produkten von mehr als 6.800 Marken und bauen dies weiter aus. Trotzdem gibt es natürlich Herausforderungen, wo wir noch besser werden können, wie beispielsweise eine verbesserte Customer Experience für unsere Kunden zu generieren. Wichtig ist es, in stetiger Unruhe zu bleiben, das Beste zu suchen.

MH: Das ist eine spannende Historie vom Papier zum Digitalen und gleichzeitig eine herausfordernde Aufgabe, trotz Distanz eine Nähe zum Kunden hinzubekommen.

MüWü: Ja, da hast du etwas angesprochen, Nähe. OTTO ist eine der Organisationen, die Nahbarkeit noch jeden Tag erfahrbar macht. Wir haben 1.500 tolle Kollegen in unseren Kundencentern, die man anrufen kann, wenn man Fragen zu einem Produkt hat. Da sind Menschen, die ansprechbar sind. Ich glaube, da unterscheiden wir uns, auch aufgrund unserer Unternehmensgeschichte, von vielen vollkommen digitalen Unternehmen, dass wir diesen Kontakt weiterhin möglich und persönlich erlebbar machen.

MH: Jetzt hast du bereits die Bedeutung des Menschen erwähnt. Was gibst du denn euren Mitarbeitern und Führungskräften mit, damit sie keine Angst haben brauchen, was die Digitalisierung betrifft?

MüWü: Das ist natürlich ein sehr schwieriges Thema, denn jeder geht individuell durch seine eigene Change-Kurve. Eine Herausforderung ist es, die Zuversicht zu vermitteln, dass all das, was wir nicht kennen und vielleicht risikobehaftet ist, nicht per se schlecht sein muss. Und dass da riesige Chancen für uns drinstecken. Ich habe größten Respekt davor, dass Menschen individuell darauf reagieren. Und trotzdem brauchen wir ein Momentum in der Organisation, das Energie freisetzt. Dieses Momentum geht nicht zwingend von allen aus, aber es müssen genügend viele sein, die sagen, wir können das schaffen. OTTO hat sich in den sieben Jahrzehnten oftmals durch Bewährungsproben bewegt. Und es geschafft, diese Zuversicht auszustrahlen und zu sagen, auch wenn wir jetzt nicht jeden kleinen Tippelschritt in der Zukunft kennen. Wir müssen unsere Mitarbeiter an die Hand nehmen und sie bei ihrem Weg vom Bewährten der Vergangenheit in die Zukunft des Möglichen begleiten. Am Ende des Tages wird es aber so sein, dass jeder Einzelne für sich die Entscheidung treffen muss, ob er diesen Weg bei uns so gehen möchte. Aber ich glaube nicht, dass es woanders sicherer und ruhiger ist in diesen turbulenten und von Disruption geprägten Zeiten.

MH: Bei den Erfahrungen, die ihr bereits in der digitalen Transformation gemacht habt, was glaubst Du, was sind da die Erfolgsfaktoren? Und wo könnten Stolpersteine sein?

MüWü: Ich glaube tatsächlich, dass man über gute und klare Kommunikation schon viel gewinnen kann. Kommunikation bedeutet, dass ich den Dialog mit den Mitarbeitern suche. Natürlich kann man nicht alles basisdemokratisch entscheiden, aber es ist wertvoll, wenn wir unseren Weg gemeinsam gestalten. Ich glaube, dass es aktuell bei Organisationsmodellen und Geschäftsmodell-Logiken eine gewisse Naivität gibt, sodass manchmal das Missverständnis entsteht, große Konzerne müssten einfach nur Strukturen und Prozesse kopieren, die in einem kleinen Start-up gut funktionieren. Da muss man meines Erachtens auf die jeweilige, individuelle Situation Rücksicht nehmen. Ich sag’ immer zu meinen Leuten, wir haben ein gemeinsames Ziel, wo wir hinwollen. Wie der Weg für jedes einzelne Team aussieht, muss ich von der Ausgangsbasis des jeweiligen Teams abhängig machen. Wenn ich da mit einer PowerPoint-Datei komme und sage, so müsst ihr das machen, das würde einer Gesamtorganisation mit ihrer Vielschichtigkeit und ihrer Diversität überhaupt nicht gerecht werden. Deshalb plädiere ich immer für viel Dialog und Transparenz. Und wir sollten zudem herausstellen, dass ein Gestalten von Zukunft auch ein Investment an Zeit und Geld bedeutet. Ich glaube, wenn es uns gelingt, viele Vertrauenspunkte in der Organisation zu generieren, dann werden wir eine Stimmung entwickeln, die motiviert und uns immer wieder zu Höchstleistungen anspornt. Ein Stolperstein ist es, wenn man diese Reise erst gar nicht antritt, in der „früher war alles besser“-Haltung verharrt und versucht so viel wie möglich zu bewahren und zu beschützen. Da können Führungskräfte Fehler machen, da können aber auch Mitarbeiter den Fehler von überhöhten Erwartungen machen. Ich glaube, es muss viel gutes Handwerkszeug da sein. Und wir müssen neben einer ingenieurmäßigen Prozessbeschreibung und einer handwerklich guten Softwareentwicklung eben auch die menschliche Dimension berücksichtigen. Es geht darum, darauf zu achten, wie wir mit den Menschen umgehen und wie wir ihnen Lern-, Entwicklungs- und Explorationsräume schaffen können.

MH: Welche Organisationskultur braucht es deiner Meinung dafür und was habt ihr als OTTO schon, um für diese Zeiten bereit zu sein?

MüWü: Wir haben dank unseres Shareholderumfeldes über die Familie Otto einen Prozess eingeleitet, den wir als Kulturwandel 4.0 bezeichnen. Michael Otto und Benjamin Otto haben das ganz klar adressiert und uns alle aufgefordert, die Herausforderung anzunehmen, uns intensiv mit unserer Unternehmenskultur auseinanderzusetzen. Weil sie erkannt haben, dass sie eine herausragende Bedeutung für den Erfolg hat. Die OTTO-Einzelgesellschaft hat dafür ein spezielles Programm entwickelt, indem wir sehr gezielt Fragestellungen zur Organisationskultur, unserem Verhalten und unserem Miteinander adressiert haben. Meine Vorstandskollegen und ich setzen uns in diese Workshops hinein und versuchen gemeinsam mit den Kollegen, das Unbekannte zu erfahren, zu explorieren. Ohne genau zu wissen, was die algebraische Gleichung nun für die Organisation bedeutet. Die Herausforderung bei Organisationskultur ist, du kannst das nicht im theoretischen Raum machen, du kannst nicht irgendeine Laborsituation schaffen. Du musst dir das quasi im laufenden Betrieb erschließen. Wir sind ein Mehrmilliarden-Unternehmen mit vielen tausend Mitarbeitern und es wäre naiv, wenn wir irgendwelche Kunststücke probieren. Insofern sind wir sehr bedacht und beobachten sehr aufmerksam, wie wir unsere Kulturfragestellungen bearbeiten und gestalten.

MH: Du hast etwas gesagt, was eine gewisse Nähe zu den Mitarbeitern ausdrückt, in die Workshops zu gehen und mit dabei zu sein.

MüWü: Ja, ich bin jetzt seit vier Jahren hier, und ich habe versucht, die Organisation und ihre Mitarbeiter kennenzulernen und sie für mich nahbar zu machen. Ich bin in die Teams gegangen, habe mir die Arbeit erklären lassen, zugehört, mit meinem Umfeld darüber geredet, was wir daraus machen können. Und mittlerweile ist das so ein Kultkonstrukt geworden, wo wir in den unterschiedlichsten Konstellationen immer wieder Führungskräfte sehen, wie sie sich durch die Organisation bewegen. Die Mitarbeiter kommen also nicht in mein Büro, sondern ich gehe in ihre Arbeitsumgebung und versuche mir dabei zu erschließen, was ihre Herausforderungen sind. Das ist für mich ein sehr wichtiges Konstrukt, zu erfühlen und zu erleben, wie es den Mitarbeitern geht und da gibt es auch nach und nach mehr direktes Feedback. Am Anfang war das ungewöhnlich, dass ein Vorstand auf der Fläche rumläuft und ich wurde gefragt, was machst du denn hier. Wir duzen uns ja alle untereinander. Ich habe gesagt, ich möchte lernen, was dich heute umtreibt und wie es dir geht. Da ist natürlich zunächst eine Distanz, denn in erster Linie werde ich in meiner Rolle als CIO wahrgenommen. Und für die Mitarbeiter ist es teilweise noch ungewohnt, dass man sich über alle Hierarchieebenen direkt austauscht. Ich bin als CIO sicherlich nicht der beste Fachmann. Auch wenn ich etwas von Software verstehe, so sind meine Entwickler natürlich die besseren Softwareentwickler. Und das ist auch nicht schlimm, ich bin ja froh, dass ich mit so vielen tollen Kollegen zusammenarbeite.

MH: Im Zuge der Digitalisierung hört man ja häufig den Begriff des digitalen Mindsets, hinter dem sich soviel verbergen kann. Was verbindest du damit?

MüWü: Ich versuche, das mal ein bisschen auseinander zu nehmen. Mindset hat ja etwas mit Einstellung zu tun und ich selber versuche, viel Gelassenheit bei unseren Herausforderungen an den Tag zu legen. Die Digitalisierung hat zur Folge, dass alles irre schnell geht. Dass sich Informationen in Windeseile verbreiten können. Und wenn man heute digitale Geschäftsmodelle nimmt, dann ist ja das Faszinierende, dass von der ersten Minute an, alle Informationen digital zur Verfügung stehen. Diese irre Geschwindigkeit mit einer Einstellung zu verbinden und meine klare Linie zu wahren, dass all das, was wir tun, die Dinge in unserer Welt in irgendeiner Art und Weise besser macht. Das ist für mich digitales Mindset. Fälle, in denen Missbrauch mit Daten betrieben wird, sind natürlich nicht vertrauensbildend. Deshalb sind wir in unserer Rolle auch aufgefordert, einen Beitrag zur Aufklärung zu leisten und sehr verantwortungsvoll mit den Themen Technologie und Digitalisierung umzugehen. Und das durchaus sehr chancenorientiert. Das ist mein Appell: Nutzt bitte eure Position, um dem Ganzen eine positive Beschreibung und Qualität zu geben und betrachtet es nicht nur als Bedrohungspotential.

MH: Das ist bereits eine klare Botschaft, die du damit beschrieben hast. Gibt es noch irgendetwas, was du im Hinblick auf die digitale Zukunft mitgeben möchtest?

MüWü: Wir brauchen mehr Bewusstsein für Bildung und Ausbildung. Ich glaube, dass viel Sorge bei dem Thema dadurch entsteht, weil wir – obwohl wir bereits viele Dinge wissen – nicht wissen, was macht das mit mir als einzelne Person. Deshalb müssen wir soviel wie möglich in Bildung und Ausbildung packen, damit Menschen die Veränderungen verstehen. Wir haben in der Vergangenheit Menschen wie Newton, Galileo und Michelangelo gehabt, die über ihre Arbeiten versucht haben, Dinge zu erklären und damit das Unverständnis der damaligen Generation aufzulösen. Vergleichbar müssen wir das heute mit der Digitalisierung machen. Wir müssen das Unverständnis, was denn KI nun macht, auflösen. Deswegen gibt es Staaten wie Finnland, die große Programme haben, um der Bevölkerung KI zu erklären. Was nicht heißt, dass alle KI-Entwickler und -Forscher werden müssen. Aber über Ausbildung und Bildung in dem Umfeld könnten wir uns meines Erachtens viel mehr erschließen. Natürlich bedeutet das, dass wir Geld dafür brauchen und Menschen, die so etwas können und dass wir uns dafür Zeit nehmen. Nur müssen wir jetzt damit anfangen, wir können nicht auf einen günstigeren Zeitpunkt warten. Der Zeitpunkt ist jetzt.

MH: Ich danke dir für diese spannenden Einblicke.

MüWü: Gerne, es hat viel Spaß gemacht.

*Allein aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf die gleichzeitige Verwendung männlicher und weiblicher Sprachformen verzichtet. Sämtliche Aussagen beziehen sich gleichermaßen auf Frauen und Männer.

Künstliche Intelligenz in Organisationen und der Gesellschaft

Interview mit Andreas Klug, Marketing Vorstand der ITyX AG und Evangelist für den digitalen Wandel

Auf der AI4U (AI for YOU), der Konferenz in München zum Thema Künstliche Intelligenz, bin ich Andreas Klug begegnet. Dieser hielt dort einen spannenden Beitrag zur „Zukunft der Mensch-Maschine Zusammenarbeit“. Ein guter Grund Andreas Klug anzusprechen und ihn zu fragen, ob er sich ein Interview mit mir zum Thema „KI-Entwicklung in Organisationen und Gesellschaft“ vorstellen könnte. Hier nun das Interview.

Andreas Klug – Marketing Vorstand der ITyX AG und Evangelist für den digitalen Wandel

Andreas Klug ist Marketing Vorstand der ITyX AG, er gilt als Evangelist für den digitalen Wandel, mit dessen Ausprägungen er sich in Vortragsreihen, Fachzeitschriften und in Blogs regelmäßig auseinandersetzt. Er leitet den Arbeitskreis „Artificial Intelligence“ im Digitalverband Bitkom und ist Mitbegründer der i-Service Initiative.

MH: Wie lange sind Sie bereits im Bereich der Künstlichen Intelligenz aktiv? Und was passiert aktuell zu dem Thema in der Wirtschaft?

AK: Ich bin seit 15 Jahren in Sachen künstlicher Intelligenz unterwegs. Noch in einer Zeit, wo Entscheider aus der Wirtschaft auf den Begriff sehr empfindlich reagiert haben. Vor zehn Jahren war die Vorstellung so, dass man ein technisches System in den Keller stellt, das eine schwarze Box ist. Man hatte noch eine naive Vorstellung davon, was eine Künstliche Intelligenz sein könnte. Man dachte tatsächlich, dass das ein „Perpetuum Mobile“ sei, das man in den Keller stellt und irgendwann fängt dieses Gerät an, Dinge zu machen, die man dann nicht mehr beeinflussen und steuern kann. Heute sind wir inmitten einer aufregenden Zeit. In den nächsten Jahren werden einige Weichen gestellt, die unsere Vorstellung von Arbeit in vielen Domänen verändern wird. Das wird zu einer fundamentalen Verschiebung führen. Da sind Sie mit Ihrer Domäne auch in einem ganz interessanten Bereich unterwegs, indem Sie schauen, was macht das eigentlich mit dem Menschen.

MH: Genau da möchte ich gerne weiter ansetzen. Was glauben Sie denn, was die Entwicklung im Bereich der Künstlichen Intelligenz für Auswirkungen haben wird? Und wie gehen Organisationen damit um?

AK: In Bezug auf die Perspektive, die Unternehmen und größere Organisationen auf das Thema Künstliche Intelligenz haben, erkenne ich zwei große Bereiche. Der eine Bereich betrifft Unternehmen, die eine Fundamentaleinstellung zur Künstlichen Intelligenz haben. Fundamentaleinstellung heißt, KI hat eine so weitreichende Konsequenz wie die Einführung der Dampfmaschine. Deren Ansatz ist es, sich Experten und technologische Hilfsmittel ins Haus zu holen, um selber in Laborsituationen zu experimentieren, um die Dampfkraft nutzbar zu machen und dann zu schauen, wie und wo die Technologie sinnvoll in ihrem Unternehmen eingesetzt werden kann. Die andere Hälfte – auch das finde ich absolut logisch und sinnvoll – sind Organisationen, die für bestimmte Business Cases z.B. in der Kundenkommunikation möglichst hoch standardisierte KI-Lösungen zum Einsatz bringen, um damit die eigene Infrastruktur zu modernisieren. Ich würde behaupten: Vielleicht ist eine Mischung aus beidem der Königsweg. KI nur der KI willen in Laborsituationen zu betrachten, bringt mich nicht wirklich voran. Und einfach nur Standardlösungen zu adaptieren, ohne Menschen im Unternehmen zu haben, die wissen, wie man so etwas umsetzt, ist auch nicht ausreichend.

MH: Lassen Sie uns zum Thema Mensch-Maschine-Interaktion übergehen. Wie wird das aussehen, wie werden Mensch und Maschine zukünftig miteinander agieren?

AK: Auch da sehe ich das zweistufig und zwar diesmal in einer zeitlichen Komponente. Ich möchte im Folgenden zwischen der kurzfristigen und der mittel- und langfristigen Perspektive unterscheiden. Bei der kurzfristigen Perspektive spreche ich von KI als Brücke für eine veraltete Kommunikations-Infrastruktur. KI ist also eine Brückentechnologie zusammen mit der Robotic, die es uns ermöglicht, die Nachteile einer veralteten Infrastruktur – im Sinne der Effizienzsteigerung und Produktivitätssteigerung – zu überbrücken. So dass Menschen mit dieser Unterstützung schneller und produktiver arbeiten und entscheiden können. Und dann gibt es die mittel- und langfristige Perspektive. Künstliche Intelligenz ist nicht risikofrei. Ich glaube aber auch, dass KI jedem die Chance gibt, Dinge zu vollbringen, zu denen er oder sie heute nicht in der Lage ist. Sei es z.B. aufgrund geringerer Bildung und Qualifizierung. Das würde z.B. bedeuten, dass Mitarbeiter, die weniger qualifiziert sind, in einem durch eine KI-Maschine assistierten Arbeitsumfeld Entscheidungen treffen können, die auch ein Experte treffen würde. Das ist eine Positiv-Perspektive auf die KI und für mich die langfristige Perspektive von Künstlicher Intelligenz, die mehr Chancengleichheit ermöglicht.

MH: Jetzt gibt es natürlich auch Menschen die Angst und Bedenken vor dieser Entwicklung haben. Was würden Sie diesen Menschen sagen? Wie kann der Mensch selbstbestimmt mitagieren und mitwirken?

AK: Zunächst müssen hier alle Beteiligten an diesem Thema gesellschaftlich, wirtschaftlich und sozial zusammenwirken, um die Vorbehalte gegenüber der „Technisierung“ unserer Gesellschaft abzubauen. Es gibt Gesellschaften und Länder, die sich diesem Thema ganz unterschiedlich stellen. An finnischen Universitäten werden abends Veranstaltungen für die Bürger angeboten, welche die Auswirkungen der KI auf verschiedene Berufsgruppen und Jobs aufzeigen. Es geht darum aufzuklären, was sind für Trends in den einzelnen Berufsgruppen erkennbar, was bedeutet das für jeden einzelnen. Das gibt jedem die Chance, sich ein Bild zu machen. Ich selbst lerne und verstehe, dass es Entwicklungen gibt, die mein Arbeitsumfeld verbessern und vereinfachen helfen.

MH: Ethik ist zudem ein großes Thema in der KI-Diskussion. Welche Rolle spielt Ethik Ihrer Meinung nach in diesem Zusammenhang?

AK: In der Gesundheitspolitik und im Gesundheitsrecht zeigen sich, wie ich meine, die ethischen Fragestellungen am offensichtlichsten. Wenn ich eine KI habe, die Ihnen einen Song vorschlägt und die schlägt einen schlechten Song vor, dann entsteht ja kein Schaden. Aber wenn ich eine KI habe, die sagt, dass Sie einen Krebsvorfall haben und dann kommt eine OP und es stellt sich heraus, die hätte nicht sein müssen, dann ist das ein Problem. Da stellt sich die Frage, wer haftet dafür. Ist es eine Produkthaftung oder ist es eine Haftung desjenigen, der das Produkt eingesetzt hat, der Arzt in diesem Fall. Oder haftet derjenige, der das System mit Wissen gefüttert hat, dann ist es der Datenanalyst.

MH: Noch eine letzte Frage zum Arbeitskreis des bitkom. Was ist die Intention des Arbeitskreises, was wollen Sie damit bewegen?

AK: Wir wollen Transparenz schaffen. KI muss in erster Linie den Menschen und der Gesellschaft dienen. Wir möchten dabei helfen, einen Rahmen für die Nutzung von KI zu definieren, damit intelligente Maschinen unser Arbeitsumfeld, unser Leben, unsere Gesundheit verbessern helfen. Ganz konkret tun wir dies im Dialog mit der Wirtschaft, den Verbänden und der Politik. Wir veröffentlichen Publikationen oder unterstützen die KI-Agenda der Bundesregierung. Insofern versuchen wir auch politisch in einer positiven Weise auf die Entwicklung in der Wirtschaft und Gesellschaft einzuwirken.

MH: Ja, ich habe einen richtig guten Eindruck bekommen, von dem, was Sie tun und was Sie in der KI-Entwicklung bewegt. Dankeschön dafür!

AK: Gerne, es war mir ein Vergnügen.